Eine Ehe in Briefen
davon!‹ Alle haben gelacht. 121 Mascha 122 schlief und hat fast überhaupt nicht geschrien; die kleine Tanja machte mit dem geöffneten Schirm auf erwachsen, Du weißt ja, wie sie sich zu ernsten Gelegenheiten erwachsen und feierlich gibt. [...]
Gestern liefen wir alle, groß und klein, voller Begeisterung am pas-de-géant . Der Aufbau ging gut vonstatten, aber der Mittelbalken steht nicht ganz fest. [...] Nach Deinem Telegramm hätte ich nicht nur am pas-de-géant fliegen können, sondern gleich ganz in den Himmel. Den Kindern gefiel es sehr, sie waren entzückt; keinen Tee wollten sie trinken, immer nur wieder zur Wiese, und schlafen gehen wollten sie auch nicht. [...] Mamá kümmert sich sehr um die Kinder, spielt mit ihnen und unterrichtet sie. Sie hat Serjosha ein Diktat schreiben lassen, und das hat ihm so gut gefallen, daß er immerfort bittet, siemöge ihm wieder diktieren. Mamá war erstaunt, wie gut er Französisch liest, was mich sehr gefreut hat. Die Kinder haben im Garten Unterricht, und so ist es ihnen nicht allzu schwer. Das Wetter hier ist wunderschön und warm. [...]
Nach dem Essen liefen wir heute in den Wald, denn es wurden die Closetts geleert. Wir haben Pilze und Beeren gesammelt, und ich war so glücklich mit den Kindern: So ruhig und froh war mir bei dem Gedanken, daß ich meine Aufgabe habe und daß mein Platz und meine Ruhe hier ist. [...]
Lebe wohl, teurer Freund, ich küsse Dich, sei beruhigt, heiter und gesund. Bald schreibe ich wieder.
Deine Sonja.
[Lew Nikolajewitsch Tolstoj an Sofja Andrejewna Tolstaja]
[8.-9. Juli 1871]
[Karalyk]
Gestern war ein glücklicher Tag. Ich verzweifelte fast, während ich auf Briefe wartete, und als der Bote aus Samara endlich zurückkehrte, verlautbarte er, daß er keine Briefe erhalten habe, denn die seien von einem Russen mitgenommen wurden. Der Russe konnte entweder der Verwalter aus dem Nachbarort oder der Verwalter von Timrot 123 sein, die ich beide gebeten hatte, auf die Poststation zu gehen. Ich sattelte also mein Pferd und ritt zu beiden. Bei dem einen – nichts. Ich reite weiter zu Timrot. »Ist der Verwalter schon zurück?« – »Nein. Aber die gnädige Frau war in Samara und hat einen Haufen von Briefen mitgebracht«, teilt mir ein Bauer mit. – »Sind welche für mich dabei?« – »Die sind alle für Sie.« [...] Ich las sie sogleich dort auf dem Hof, und der einfache Landmann ging vorüber und sagte: »Nun, ist das denn nicht wirklich ein Haufen?« Deine Photographie war auch dabei. Sie hat mich sehr gefreut und tut es noch (denn ich blicke oft auf sie), obwohl der erste Eindruck nicht gerade angenehm war. Du schienst mir alt, magerund bedauernswert. Es ist übrigens immer so, daß nach einer Trennung das Photo und selbst das wirkliche Antlitz des Menschen, für den man nicht Liebe, sondern viel mehr als diese empfindet (wie ich für Dich), Enttäuschung hervorruft. Vor meinem inneren Auge sehe ich Dich immer genauso, wie Du tatsächlich bist, aber vollkommen. Doch die Wirklichkeit ist nicht vollkommen. Mittlerweile habe ich mich mit dem Portrait ausgesöhnt, es ist mir angenehm, sehr sogar. – Deine Briefe habe ich sicher dreimal oder noch öfter gelesen. [...]
Es hat mich sehr gefreut, daß Du gegen Mascha zärtlicher geworden bist. Ich liebe sie so sehr, und es bekümmerte mich, daß Du so kühl gegen sie warst.
Dein Portrait erinnert an eine Märtyrerin, und doch bin ich glücklich darüber.
[Sofja Andrejewna Tolstaja an Lew Nikolajewitsch Tolstoj]
4. Juli [1871]. Nach dem Essen.
[Jasnaja Poljana]
Ob Du meine Briefe erhältst oder ob sie verlorengehen, weiß ich nicht, trotzdem schreibe ich Dir beständig, denn dies ist die einzige Beschäftigung, die mich erfreut, sonst habe ich nur den Haushalt, das Einkochen von Marmelade, die Dienstboten – all dies erdrückt mich. [...] Ich bin daran gewöhnt, mich gemeinsam mit Dir auf jene geistige Höhe zu erheben, die mich erleuchtet und mit dem Preis für das Birkhuhn (d.h. mit dem Haushalt) versöhnt.
[...]
Die Kleinen sind wohlauf, Mascha wird langsam kräftig, Du wirst sie sehr verändert finden. Daß Mamá abreist, macht mich sehr traurig, sie ist mir Stütze, Beistand und Trost. [...] Ich wollte Dir schreiben, wie sich unser Leben hier gestaltet, doch es geht nicht, denn wir haben gar keinen besonderen Tagesablauf. Ich stehe gegen zwölf Uhr auf, denn ich schlafeerst gegen fünf ein. Seit vier Nächten kann ich nicht schlafen, Gott weiß, weshalb. Ich lese englisch und
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