Eine Ehe in Briefen
»Sitzen da drei Vogelscheuchen und können den Kindern nicht Einhalt gebieten.« Ich war darüber selbstverständlich sehr erbost. Nach dem Essen nahm Serjosha schüchtern meine Hand und sagte: »Seien Sie nicht böse, Mamá.« Ich appellierte an sie: »Kommt, Kinder, laßt uns nach dem Essen alle wieder nett zueinander sein, was ist denn das für ein Sonntag?« Serjosha ging Tagebuch schreiben, auch Tanja beruhigte sich, doch Ilja, Ljolja und Mascha waren frech zueinander, versteckten sich unter den Betten, beschimpften einander als fool 165 , und Mr. Nief 166 war richtig niedergeschlagen.
Vor dem zu Bett gehen kamen Ilja und Ljolja zu mir in die Kinderstube, um Gute Nacht zu sagen, und beklagten sich: »Wie trostlos es doch heute war«, woraufhin ich ihnen eine Moralpredigt hielt und ihr Gewissen beschwor. Ich tat ihnen kund, daß ich bedauerlicherweise gezwungen sei, Papá über ihr Benehmen zu unterrichten, darauf antwortete Ljolja: »Fügen Sie hinzu, daß wir von Montag an die ganze Woche lieb zueinander sein werden und uns gut betragen.«
Ich habe immer noch etwas Fieber und daher das Fasten gebrochen. [...] Du wirst mir viel Interessantes zu erzählen haben. Lebe wohl, liebster Freund, ich küsse Dich und Mamá, warte mit Ungeduld auf Nachricht.
Sonja.
4. März 1878
Sonntagabend.
[Lew Nikolajewitsch Tolstoj an Sofja Andrejewna Tolstaja]
[7.-8. März 1878]
[Sankt Petersburg]
Wieder schreibe ich Dir am Abend, liebste Freundin, bei Mamá.
Am Morgen suchte ich Al[exandra] Andrejewna 167 auf und war bis 3 bei ihr. Von dort fuhr ich zu Bistrom 168 . Der Kauf ist außerordentlich günstig. 20tausend sind sofort zu bezahlen, der Rest über zwei Jahre zu 6%. Er ist sehr gesprächig und überaus nett. [...]
Gestern fühlte ich mich etwas kränklich, heute geht es mir wieder gut. Morgen bringe ich beim Notar in Erfahrung, wie und wann der Kaufbrief besiegelt werden kann und schreibe es Dir.
Deinen Brief habe ich erhalten. Wie betrüblich, daß die Kinder sich so schlecht betrugen. Sei nicht böse, daß ich Dir kein Telegramm schickte, mein Herz.
Alle Tolstojs hier haben Dich aufrichtig liebgewonnen, sagen nur Gutes über Dich, und ich bin dessen glücklich. Ich bleibe nicht eine Stunde länger als notwendig. Es ist trostlos und beschwerlich hier, und doch bin ich ruhig und gelassen.
Ich küsse Dich und die Kinder. Untersage Andrjuscha, Dich zu bekümmern.
L.
[Sofja Andrejewna Tolstaja an Lew Nikolajewitsch Tolstoj]
[7. März 1878]
[Jasnaja Poljana]
Ich kann mich nicht enthalten, Dir, lieber Ljowotschka, davon zu berichten, was heute so schwer mir auf der Seele lastet. Vermutlich belasten meine Einsamkeit und die Sorge um Dich meine Nerven allzusehr und verstärken meinen Glauben an mannigfaltigste Vorzeichen; ich bin ganz krank aufgrund eines Traumes, den ich letzte Nacht sah. Mir träumte, daß ich mitLjolja und Mascha am Karfreitag auf die große Stadtkirche zugehe, um die herum ein riesiges vergoldetes Kreuz sich bewegt; nachdem es die Kirche dreimal umrundet hatte, blieb es stehen, drehte sich zu mir um, und ich gewahrte den gekreuzigten Erlöser, ganz schwarz von Kopf bis zu den Füßen. Ein Mann säuberte ihn mit einem Handtuch, und plötzlich war er über und über weiß, öffnete das rechte Auge, hob die rechte Hand und deutete gen Himmel. Dann ging ich mit Ljolja und Mascha die Landstraße entlang, ein Krimapfel rollte über das Gras, und ich sagte zu ihnen: »Hebt ihn nicht auf, es ist meiner.«
Als ich erwachte, war es fünf Uhr, ich zitterte wie im Fieber, meine Zähne klapperten, und ich schluchzte. Im Traum sagte ich noch in einem fort zu mir selbst: »Gott schickt mir ein Kreuz – ich muß es tragen, und etwas Süßes wird mir genommen.« Alle hier deuten diesen Traum auch so. Schlafen konnte ich danach nicht mehr; jetzt schmerzen mich Brust und Rücken, und ich möchte die ganze Zeit nur weinen. Natürlich beziehe ich meine Angst und Beunruhigung auf Dich, mein Liebster; doch ich hoffe, daß dieser Alptraum mich aufgrund einer Krankheit heimsuchte, da irgend etwas mit mir nicht stimmt. Mögest Du nur bald heimkommen.
[...]
Bitte, sei so gut, mir, sobald Du diesen Brief erhältst, vermutlich am Donnerstag, nach Koslowka zu telegraphieren, wie es Dir geht. Ich küsse und liebe Dich.
Sonja.
Dienstag, den 7. März 1878. 12 Uhr am Mittag.
[Lew Nikolajewitsch Tolstoj an Sofja Andrejewna Tolstaja]
[9. März 1878]
[Petersburg]
Bahnstation Koslowka. An die Gräfin Tolstaja.
Bin
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