Eine Ehe in Briefen
Uhr in Semljanki 173 an, es war noch ganz hell. Wäre es eine Vollmondnacht gewesen, so hätten wir noch vor 12 auf dem Gut eintreffen können. Doch da ich nicht wußte, wie ich dort alles antreffe und der Dunkelheit wegen, beschloß ich, beim gastfreundlichen Truskow zu übernachten. Wir schliefen alle zusammen auf dem Speicher, Monsieur Nief und Ljolja wurden von Flöhen geplagt. Ljolja kratzte sich im Schlaf und schlug nach mir aus. Am nächsten Morgen kamen wir an, ich begab mich gleich zu Muhamed, der sich in einiger Entfernung von hier niedergelassen hat. [...] Dann ging ich zum Haus, nahm die Aufteilung der Zimmer vor und befand sogar einige für überflüssig. Obgleich Du diesen Brief, solltest Du nach dem Telegramm, das ich Dir heute schicke, abreisen, nicht mehr erhalten wirst, lege ich Dir trotzdem einen Plan des Hauses bei. [...] Ich habe mir viele Gedanken darüber gemacht und denke, so ist es am besten. Und so werde ich es einrichten, wenn Du mir per Telegramm mitteilst, ob Du nachkommst. Es ist recht sauber und wärmer als das andere [...], es gibt sogar Öfen, einen im Kontor und einen im Haus selbst. Nah am Haus wachsen Weidensträucher und einige traurige Stachelbeerbäumchen,Wasser gibt es direkt am Haus, nur eines ist ungünstig, nämlich, daß hier auf dem Gut auch Mist lagert, der Unmengen von Fliegen anzieht; man kann außer des Abends weder in Ruhe essen noch Tee trinken, noch arbeiten.
Ich trinke Kumys, aber ich kann nicht sagen, daß ich dies mit besonderer Lust täte, sondern ich fröne dem nur aus Gewohnheit; und ich verspüre auch keinen übergroßen Wunsch, den gesamten Sommer hier zu verbringen. Monsieur Niefs Stimmung ist schlecht, ihm gefällt es wohl nicht. [...]
Bibikow 174 führt die Wirtschaft sehr gut. Dafür, daß er das Haus herrichtete, müssen wir ihn nicht bezahlen. Es gibt auch Melonenfelder. Die Pferde sind sehr gut. Und auch der Weizen gedeiht besser, als ich erwartete. Ich bin völlig untätig, denke so gut wie gar nicht und fühle, daß ich mich in einem Zustand des Übergangs befinde. Deinetwegen mache ich mir Sorgen, und ich denke an Dich, wann immer ich allein bin. Gebe Gott nur, daß während unserer Trennung alles beim guten bleibt. Ich habe dieses Gefühl der besonderen, allerhöchsten, geistigen Liebe zu Dir so gern, das ich während einer Trennung von Dir so viel stärker empfinde. Und nun die wichtigste Frage: Ob Du kommen sollst oder nicht? Aus meiner Sicht nicht, und zwar aus folgendem Grund: Ich weiß, daß ich das Wichtigste für Dich bin. Und ich möchte eher zurückkommen als hierzubleiben. An den Nutzen des Kumys für meine Gesundheit glaube ich nicht. Und da hier Dürre herrscht und, wie man hört, Durchfallerkrankungen umgehen, wäre Dir und Andrjuscha die Reise hierher wohl nicht zuträglich. Was die Bequemlichkeit des Hauses betrifft, so ist es nur geringfügig behaglicher als jenes, in dem wir die Sommer zuvor verbrachten. – Doch vergiß eines nicht: wie auch immer Du entscheiden magst, zu bleiben oder zu fahren, und was auch immer ohne unser Zutun geschehen mag, ich werde Dir oder mir selbst niemals Vorwürfe machen, auch im stillen nicht. In allem, außer in unseren guten und schlechten Taten, waltet Gottes Wille. Verüble mirnicht, wie Du es bisweilen zu tun pflegst, die Erwähnung Gottes. 175 Ich kann mich nicht enthalten, dies auszusprechen, denn Gott ist die Grundlage meines Denkens. Ich umarme Dich und küsse Dich, meine Liebe.
Küsse die Kinder und alle Unsrigen.
Falls Du kommst, werde ich Dich in Semljanki abholen.
Das Wichtigste vergaß ich: Falls Du nicht kommst, reisen wir am 1. Juli zurück.
II. Krise und Umschwung
Auf seinem schöpferischen Höhepunkt gerät Tolstoj in eine schwere Krise. Die Antwort auf die Frage nach dem Sinn jeglichen Daseins suchte Tolstoj vergeblich in der Orthodoxie. Im Herbst 1879 beginnt Tolstoj, seine Beichte zu schreiben, in der er sein ganzes bisheriges Leben als sinnlos und eitel verurteilt. Diesem Werk folgt eine Reihe weiterer religiös-philosophischer Schriften, in denen Tolstoj die Grundsätze einer neuen Religion entwickelt, »die auf der Lehre Christi beruhen sollte, gereinigt von Dogmen und Mystik«. In der Schrift Worin besteht mein Glaube? (1883/84) zieht Tolstoj Bilanz seiner bisherigen religiösen Suche.
Um den ältesten Kindern, die mittlerweile fast erwachsen sind, eine standesgemäße Ausbildung zu ermöglichen, lebt die Familie ab 1881 während der Winter in Moskau. Für Tolstoj ist
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