Eine Ehe in Briefen
Dein ganzes Leben verkenne. – Wie ungeschickt war dies doch von mir.
[...] Lebe wohl, liebster Freund, erbose Dich nicht über diesen Brief; ich kann nicht, obwohl es mir anfangs wohl gelang, allein über das Wetter schreiben, während so viele anderen Gedanken mich umtreiben. Ich küsse Dich und auch Serjosha. Warum hat er denn noch nicht einmal geschrieben!
Sonja.
[Lew Nikolajewitsch Tolstoj an Sofja Andrejewna Tolstaja]
[29. September 1883]. Donnerstag.
[Jasnaja Poljana]
Gerade kehrte ich aus Krapiwna 66 zurück, wohin ich als Geschworener berufen worden war. Ich kam gegen 3 dort an, die Verhandlung hatte bereits begonnen, und ich erhielt ein Strafgeld über 100 R[ubel]. Als man mich aufrief, erklärte ich, ich könne nicht Geschworener sein. Man fragte: »Warum?«, und ich antwortete: »Aufgrund meiner religiösen Überzeugung.« Man fragte, ob ich endgültig ablehne, und ich antwortete, ich könne nicht anders handeln. Und ging fort. Dies alles vollzog sich in freundschaftlichem Ton. Nun werden wahrscheinlich noch weitere zweihundert als Strafe verhängt, und ich weiß nicht, ob es damit ein Ende hat. Doch ich denke ja.
Ich bin überzeugt, daß Du nicht daran zweifelst, daß ich nicht anders handeln konnte. Doch sei bitte nicht erbost, daß ich Dir nicht sagte, daß man mich als Geschworenen berief. [...] Du wärst besorgt gewesen und hättest versucht, auf mich einzuwirken. Ich war ja ohnedies sehr beunruhigt und versuchte, ruhig zu bleiben. Ich hätte ja auch gar nicht erscheinen können. Dann wären dieselben Strafgelder verhängt worden, und man hätte mich noch einmal berufen. Nun aber habe ich ein für alle Mal dort dargelegt, daß ich nicht Geschworener sein kann. [...]
Meine Korrekturbögen habe ich noch nicht erhalten und habe bisher erst einen Tag gearbeitet, den Schluß aber noch nicht fertiggestellt 67 . Doch er erscheint mir derart wichtig, daß ich immerfort über ihn nachdenke. [...] Ich habe immer noch nicht entschieden, wann ich zurückkehre. Ich möchte den Aufsatz fertigstellen, wenn ich ein oder zwei Tage gut arbeiten kann, dann könnte ich bald kommen, denn ohne Euch fühle ich mich einsam und bin Euretwegen so besorgt. [...]
Dich wünschte ich besonders gern zu sehen. In letzter Zeit (ich kann nicht sagen, seit wann, aber es ist ein recht langer Zeitraum) bist Du mir in jeglicher Hinsicht wieder sehr lieb und reizvoll und teuer. Mir scheint, zwischen uns entsteht ein neues Band, und ich fürchte ganz schrecklich, es könnte wieder zerreißen.
Wie schön es hier auch sein mag, ich komme bald zurück. [...] Lebe wohl mein Herz. Ich küsse Dich und die Kinder. Grüße an M-me Seuron.
[Sofja Andrejewna Tolstaja an Lew Nikolajewitsch Tolstoj]
1. Oktober [1883]
[Moskau]
Ich fürchte, lieber Ljowotschka, daß ich mich im gestrigen Brief nicht allzu mild hinsichtlich Deiner Weigerung, Geschworenerzu sein, äußerte. In mir erhob sich jenes alte, egoistische Gefühl, daß Du uns, die Familie, nicht schonst und uns in Sorge um Dich und Deine Unversehrtheit versetzt. Sicher, Du hast Deinen Überzeugungen entsprechend gehandelt. Doch indem Du einfach nicht zum Prozeß erschienen wärst, nichts gesagt und die Dir auferlegte Strafe bezahlt hättest, hättest Du auch Deinen Überzeugungen entsprechend gehandelt, doch damit hättest Du nichts aufs Spiel gesetzt und auch niemandem Kummer bereitet. Deshalb auch hast Du es vor mir verschwiegen, da Du wußtest, daß ich dies verlangen würde und auch darauf bestanden hätte. Dir aber war ebendies eine Freude – Dich öffentlich zu äußern und etwas aufs Spiel zu setzen.
[...] Bei uns herrscht ewiger Trubel, und mitunter ist es mir schwer. Ich bin sehr gelassen, vielleicht sogar zu sehr; doch der Rücken schmerzt, und ich verspüre Schwermut. Nichts, aber auch gar nichts kann mich erfreuen.
Sollte ich denn dessentwegen ein besserer Mensch sein, da ich die Fähigkeit verloren habe, Freude zu empfinden?
[...] Tanja ist zur Zeit sehr lieb und sanftmütig. Ilja, Mascha und Ljolja sind ausgeglichen, nur Serjosha ist ungehobelt und unerträglich. Es ist so traurig! [...] Und Kostenka 68 hat sich wieder bei uns eingerichtet. Er schläft in Deinem Arbeitszimmer, verlangt mit überzeugtem und unverschämtem Ton von morgens bis abends Verbesserungen in meiner Haushaltsführung oder einen Imbiß oder Wein, oder er lacht mich aus, da ich Dir jeden Tag schreibe, oder er lehrt mich, wie ich zu leben habe ... Manchmal würde ich am liebsten in Tränen
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