Eine Ehe in Briefen
Antworttelegramm und drei Briefe, der letzte vom 7. Juni. [...] Und ich las das freudige Telegramm, daß Ihr alle wohlauf und heiter seid sowie Deine Briefe; zuerst erbrach ich Deinen Brief vom7. Juni, den letzten; und je länger ich las, desto stärker wurde das Gefühl der Kälte, das mich erfaßte. – Ich wollte Dir diesen Brief zurückschicken, doch Dich würde dies bekümmern. Dieser Brief enthält nichts Besonderes; doch ich schlief die ganze Nacht danach nicht, mir war schrecklich traurig und schwer zumute.
Ich liebte Dich so sehr, doch Du hast mich an alles erinnert, womit Du meine Liebe beharrlich zerstörst. Ich schrieb Dir, daß es mir leid tut, daß ich mich allzu kühl und übereilt von Dir verabschiedete; Du erwiderst mir darauf, Du bemühtest Dich, so zu leben, daß Du mich nicht brauchst und daß Dir dies sehr gut gelinge. Über mich und darüber, was mein Leben ausmacht, schreibst Du, als sei es eine Schwäche, von der Du hoffst, ich würde durch meine Kumys-Kur hier geheilt werden. Du schreibst über unser Wiedersehen, welches für mich ein helles, freudiges Licht in der Zukunft ist, an das nicht zu denken ich mich bemühe, um nicht sogleich alles stehen und liegen zu lassen, und siehst von meiner Seite Vorwürfe und Unannehmlichkeiten vorher. Über Dich selbst schreibst Du, Du seiest so ruhig und zufrieden, daß mir als einziges übrigbleibt, diese Ruhe und Zufriedenheit durch meine Anwesenheit nicht zu stören. [...]
Ach, wenn doch diese bösen Minuten Dich nicht heimsuchten – ich weiß nicht, welches Maß meine Liebe zu Dir erreichen könnte. [...] Von jenem Gefühl, das mich vor Deinem letzten Brief erfüllte, fühle ich mich jetzt weit entfernt. Ja, es ist arg! Genug, verzeih, wenn ich Dich verletzte, doch Du weißt ja, daß zwischen uns keine Lüge sein darf. [...]
Ich umarme Dich, mein Herz, und küsse die Kinder. Ob ich will oder nicht, muß ich gestehen, daß die Erinnerung an Mischa mir die größte Freude bereitet.
[Sofja Andrejewna Tolstaja an Lew Nikolajewitsch Tolstoj]
21. Juni [1883]. Des Nachts.
[Jasnaja Poljana]
Zum ersten Mal im Leben schicke ich einen Brief, den ich Dir geschrieben habe, nicht ab, sondern schreibe einen neuen. Heute ist genau ein Monat vergangen, seit Du abgereist bist, und gerade heute kam Sascha Kusminski an. Die Gatten haben einander hier sehr liebevoll empfangen, und ich hoffe, daß sie auch weiterhin so einmütig und freundschaftlich miteinander umgehen werden. Von Dir habe ich wieder keine Briefe erhalten, wie selten sind doch die Nachrichten von Dir!
Bei uns ist alles unverändert. Der hartnäckige Keuchhusten will nicht vorübergehen, besonders bei Aljoscha. Ansonsten sind die Kleinen wohlauf und heiter. Heute waren sie spazieren, haben Beeren und Pilze gesammelt und waren baden. Die Tage sind heiß und windig, die Abende frisch, das Getreide ist bereits fast gänzlich eingebracht, heute habe ich Erdbeermarmelade gekocht, die Lindenblüte beginnt. Es ist schade, daß Du die Schönheit der schönsten Jahreszeit hier nicht erleben kannst.
[...]
Ich lese immer noch Deinen Artikel oder besser: Deine Abhandlung 65 . Natürlich kann man sich nicht dagegen aussprechen, daß es gut sei, wenn die Menschen vollkommen wären, und sicher muß man die Menschen daran erinnern, wie sie vollkommen werden können, und aufzeigen, auf welchem Weg sie dies erreichen können. Gleichwohl kann ich nicht verhehlen, daß es schwierig ist, alles Spielzeug im Leben fortzuwerfen, mit dem man spielt, und ein jeder, ich sogar mehr als andere, hält dieses Spielzeug fest und freut sich daran, wie es glänzt und lärmt und entzückt. [...]
In meinem Brief, den ich nicht absende, habe ich Dir von all meinen Gefühlen geschrieben, doch dann habe ich begriffen, daß Du meine wahren Gefühle gar nicht brauchst. Du gehstmittlerweile so sorglos mit ihnen um, daß es besser ist, wenn Du sie nicht kennst. Wirst Du denn jemals wieder der sein, der Du einmal warst? Doch werde ich dann noch dieselbe sein? Alles auf der Welt ändert sich. [...] Niemals wieder werde ich Dich festhalten, wie ich dies in früheren Jahren, Dich liebend, unvorsichtig tat. Gegenseitige Freiheit – dies ist das neue Glück. Dann wird es keine Vorwürfe und Streitereien mehr geben, dafür aber auch nicht jene enge Verbindung unserer Herzen, in der jeder die Bewegung des anderen spürt. [...] Ich möchte, bei Gott, nicht wieder schuld daran sein, daß ich Dich nicht fortlasse, Dich aller Freuden beraube und
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