Eine Ehe in Briefen
klugen Schauspieler mit gutem Gedächtnis, der viele kluge Bücher gelesen hat. Dann ging ich auf den Skiern zur Jagd. [...] Ein betrunkener Bauer nahm mich das letzte Stück des Weges nach Hause zurück mit, küßte mich und Bulka 76 und nannte mich »Vater«. – Leicht angetrunkene Bauern sind die besten und liebenswürdigsten Menschen auf der Welt. Unterwegs erging ich mich wunderbar in Gedanken. Du kannst Dir nicht vorstellen, als wie herrlich ich das Gefühl der Freiheit empfinde, seit ich mein Buch beendet habe. Ich fühle mich endlich nicht mehr als une machine à écrire 77 . Ich denke immerfort an die Großen und bin ihretwegen auch besorgt. [...] Morgen kehre ich nach Jasnaja zurück.
L.T.
[Sofja Andrejewna Tolstaja an Lew Nikolajewitsch Tolstoj]
30. Januar [1884]. Montag.
[Moskau]
[...] Der gestrige Ball war sehr schön, wir waren vernünftig und gingen bereits gegen fünf Uhr nach Hause. Doch die Kutsche war nicht da, und deshalb mußten wir bis sechs warten. Es war sehr ärgerlich! Dolgorukow 78 war auch da und bat uns sehr, doch heute zu seinem Ball zu kommen. Es ist überaus ermüdend, gleichwohl werde ich den Ball besuchen, etwas späterallerdings. Ilja war gestern und heute zu Hause. [...] Er möchte morgen Malysch 79 auf der Ausstellung zeigen, Serjosha habe ich heute noch nicht gesehen, ich weiß nicht, wo er ist. Ljolja ist in der Schule sehr schlecht, die Lehrer beschweren sich, und die Madame ist auch ganz und gar verzweifelt. [...] Die Kleinen sind wohlauf, sind gerade spazieren.
Soeben erhielt ich Deinen Brief. Ich sehe, daß Du mit vollem Atem die Luft, die Umgebung und die sittliche Freiheit in Dich aufnimmst. Ein wenig neidisch bin ich: Ich stehe ganz unter dem Einfluß der Atmosphäre der Bälle und der alltäglichen Kleinigkeiten. Komme nicht zum Lesen, nicht einmal dazu, zu mir zu kommen und mich zu erholen. – Ich schicke Dir einen Brief Tschertkows 80 . Wirst du denn wirklich weiterhin bewußt die Augen verschließen vor ihm und Menschen seines Schlages, in denen Du nur Gutes sehen willst? Das ist doch Blendung! [...] Halte mir nicht vor, daß ich Dir in Deine poetische Welt aus Moskau einen Wust von mannigfachem Unrat entgegenwerfe; doch ist es ja nicht meine Schuld, daß ich in alltäglichem Gezänk, Betrug, materiellen Sorgen und physischer Belastung lebe. [...]
Lebe wohl Ljowtschka, bleibe gesund.
S.
[Lew Nikolajewitsch Tolstoj an Sofja Andrejewna Tolstaja]
[30. Januar 1884]
[Jasnaja Poljana]
Gegen zwölf Uhr holte mich Philip 81 bei Bibikow ab, und ich fuhr nach Hause. Ich las »Fahrende Sänger« 82 . Dies brachte mich auf eine Idee zu einem neuen Volksstück, über das ich mit großem Vergnügen nachdenke. [...] Du befindest Dich vermutlich gerade im Aufbruch zum Ball. Ich bemitleide Euch beide, Tanja und Dich, sehr.
Heute kam Wlas 83 zu mir und sagte: »Ein Knabe ist hier, er bittetum Almosen.« Ich antwortete ihm, er möge ihn zu mir bringen. Ein Junge, nur wenig älter als Andrjuscha, mit einem Bündel über der Schulter, trat ein. »Woher kommst Du?« – »Von hinter Sasseka.« – »Wer schickt Dich denn?« – »Niemand, ich bin allein.« – »Was macht Dein Vater?« – »Er hat uns verlassen. Meine Mama ist gestorben, da ging er fort und kam nicht mehr wieder.« Der Knabe begann zu weinen. Er hat drei Geschwister, die noch jünger sind als er. Die Kleinen hat die Gutsbesitzerin zu sich genommen. »Sie«, so sagte er, »kümmert sich um die Armen.« – Ich bot dem Knaben Tee an. Er trank sein Glas aus, drehte es um, legte sein angebissenes Zuckerstück darauf und bedankte sich. Mehr mochte er nicht trinken. Ich wollte ihm auch noch etwas zu essen geben, doch Wlas sagte mir, er habe bereits im Kontor zu essen bekommen. [...] Solcher Knaben, Frauen und Alten gibt es viele, ich sehe sie hier und sehe sie gern. [...] Ich hoffe, daß es Mascha wieder besser geht. Mit Wlas unterhalte ich mich über Bücher. Man sollte eine Bauernbibliothek gründen.
[Sofja Andrejewna Tolstaja an Lew Nikolajewitsch Tolstoj]
31. [Januar 1884]. Dienstag.
[Moskau]
Dein Brief, den ich heute erhielt, ist geradezu eine Erzählung, wie immer, idealisiert, doch vielsagend und anrührend. In ihm ist ein gewisser Vorwurf gegen mich nicht zu überhören, indem Du die Armut des einfachen Volkes der gedankenlosen Pracht der Bälle, die ich mit Tanja besuchte, gegenüberstellst.
Diese Bälle haben völlige Leere in meinem Kopf hinterlassen, so müde bin ich dessen, den ganzen Tag bin
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