Eine Ehe in Briefen
den ich heute erhielt, hat mich der Satz »Es ist trostlos, allein zu essen« sehr verletzt. [...] Ich bringe ihn selbst zu Ende: »Das Leben allein aber ist sehr viel besser.«
Manchmal, wenn Du zartfühlend und fürsorglich bist, gebe ich mich erneut der Illusion hin und stelle mir vor, daß Du Dich ohne uns traurig fühlst. Natürlich gibt man sich dieser Illusion immer seltener hin und füllt statt dessen das Leben mit anderem. Aber ich habe schon gar keine Lust mehr am Leben, nicht mit Dir noch mit den Kindern oder womit auch immer, und öfter und drängender stellt sich mir die Frage, ob man denn wirklich leben muß und nicht anders kann? – Mein Brief sollte eigentlich meinem nunmehrigen Leben entsprechen: ruhig, gewissenhaft, bemüht, meine Pflicht zu erfüllen und alles zu ersticken, was unvernünftig ist. Und meine Pflicht ist es, Dich nicht zu verstimmen – vielleicht hast Du ja heute einen Tag, an dem Du gut arbeiten kannst, und ich verstimme Dich mit meinem Brief. Aber dies wird vergehen, wenn meine Gesundheit wieder besser ist.
Gestern, kurz bevor ich zum Konzert aufbrach, kam Ilja in mein Zimmer, seine Zähne klapperten, er hüpfte auf einem Bein, war gänzlich blaß und sagte: »Mein Bein schmerzt furchtbar, und ich habe Schüttelfrost, ein Graus!« [...] Das Fieber verging jedoch rasch. Der Arzt befand, daß die Prellungen am Bein nicht gefährlich seien und daß das Fieber davon unabhängig gewesen sei. Heute ging es Ilja schon viel besser. [...] Mascha gab der Arzt ein Mittel gegen Würmer. Sie hat es bereits genommen und ohne Ende treten nun Würmer aus ihr heraus; sie ist sehr entkräftet, fühlt sich schlecht und ist aschfahl.
Andrjuscha geht es besser; die neue Engländerin 73 ist schrecklich ungeübt und unterstützt mich noch sehr wenig; wenn wir Glück haben, wird sie sich eingewöhnen. Ljolja träumt von einer Eislaufbahn im Garten, er hat heute mit Alcide und dem Soldaten den Platz bewässert, doch dann schneite es, und die ganzen Mühen waren umsonst. [...]
Ich habe gestern die Lektüre über den Faust beendet und stimme mit Dumas’ Unmut gegen Goethe ob dessen Mangel an jeglichem Glauben vollständig überein. Dumas sagt ganz klar, daß Goethe sich trotz seines Talents als nicht überzeugend erwies, und zwar aufgrund dessen, weil ihm der Glaube fehlte. Mir leuchtete dies absolut ein; es ist die Wahrheit.
Warum schreibst Du denn nicht, wann Du zurückzukommen gedenkst? Hast Du es selbst noch nicht entschieden? [...] Lebe wohl, lieber Ljowotschka, bleibe, so lange es Dir dort gut geht, mir wird es wohl kaum noch einmal in diesem Leben gut gehen.
Sonja.
[Lew Nikolajewitsch Tolstoj an Sofja Andrejewna Tolstaja]
[15. November 1883]
[Jasnaja Poljana]
Heute habe ich endlich das erste Mal menschenwürdig geschlafen und bin früh erwacht. Den ganzen Morgen über schneite es, und obwohl ich keine Hoffnung hatte, im Neuschnee Fährten zu finden, ritt ich aus. Am Morgen hatte ich Deinen schönen Brief erhalten und war so ruhiger Stimmung. [...] Wieder aß ich allein. [...]
Was Deine Gesundheit betrifft, so freute ich mich, Genaueres darüber zu erfahren. Wenn Deine Vermutung zutrifft, so bist Du wohl wie immer in diesem Zustand in absonderlicher Verfassung 74 . Es heißt ja, daß so etwas sich immer furchtbar auf die Seele auswirke. Zum Glück weißt auch Du dies. Mein Herz, wenn Du Dich doch an den Gedanken gewöhnen könntest, an den wir uns alle wider Willen gewöhnen müssen, daß wir nämlich physisch nie ganz Herr über uns sein können, sittlich indes stets frei sein und über uns selbst bestimmen können. Wie viel leichter wird auch Dir das Leben sein, wenn Du dies – nicht verstehst, denn Du verstehst es – glauben kannst und danach leben wirst.
Morgen werden Fährten im Schnee zu finden sein, und ich werde noch einmal auf die Jagd gehen, übermorgen bin ich dann, sollte ich am Leben bleiben 75 , bereits wieder bei Dir. [...] Ich umarme Dich, küsse die Kinder von mir. Wie gut wäre es, wenn Deine Vermutung nicht zuträfe!
Es ist 11 Uhr. Ich gehe zu Bett.
1884
[Lew Nikolajewitsch Tolstoj an Sofja Andrejewna Tolstaja]
[29. Januar 1884]
[Jasnaja Poljana]
Ich schreibe früher als sonst – um 7 Uhr des Abends, denn ich bin ins Haus übergesiedelt. Bibikow kam und lud mich ein, bei ihm zu übernachten, und ich stimmte zu; ich fürchtete, es wird hier noch sehr voller Kohlendunst sein. Am Morgen las ich sehr aufmerksam Macbeth – ein Gauklerstück, geschrieben von einem
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