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Eine Ehe in Briefen

Eine Ehe in Briefen

Titel: Eine Ehe in Briefen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sofja Tolstaja , Lew Tolstoj
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Brief an Dich. Ich küsse Dich.
    Sonja.
    [Lew Nikolajewitsch Tolstoj an Sofja Andrejewna Tolstaja]
    [21. Oktober 1884]
    [Jasnaja Poljana]
    Nachdem ich Euch zum Zug gebracht hatte, machte ich mich zu Fuß auf den Weg nach Hause, denn Philip hatte noch zu tun. Er holte mich beim Rudakow Berg ein. Zu Hause bezog ich das Zimmer der Söhne und richtete mich dort ein. [...]
    Heute erwachte ich um 8 und stand sogleich auf. Der heutige Tag ist noch schöner und wärmer als der gestrige. Ich gab Adrian 91 frei, brachte selbst das Zimmer in Ordnung, hackte Holz, was mir größtes Vergnügen bereitete, trank um 10 Uhr Kaffee und machte mich dann an die Durchsicht und Korrektur meiner Dogmatikkritik 92 . [...] Nun lege ich mich schlafen. Die gestrige Nachricht vom Tod Pisarews 93 (so sie denn zutrifft) erschütterte mich stark. Mir wurde schrecklich traurig und mürrisch zumute. Mir wurde dadurch klar, wie unüberwindlich die Mauer ist, die die Menschen von der Wahrheit trennt.
    Unter diesem Eindruck stehend, las ich Erinnerungen undKriegsbeschreibungen in der »Russkaja starina« 94 . Wie stark haben sich doch irrige Ansichten der Menschen bemächtigt! Man sieht keine Möglichkeit, diese auszutilgen. Doch ich weiß, daß dies nur Schwäche ist. Existierten diese irrigen Ansichten nicht, so gäbe es nichts auf der Welt zu tun – jedenfalls für mich. Doch wenn man sich der Unüberwindlichkeit dieser irrigen Ansichten bewußt wird, so wird einem bange. Doch darüber sollte man nicht nachdenken, sondern sie auszutilgen suchen, wo immer man die Kraft dazu hat. Dies stimmt einen froh. –
    Wie bist Du in Moskau angekommen? [...] Was machen die Söhne? Schreibe mir ausführlich alles und nicht in Eile, was sich bei Euch ereignet. Ich umarme Dich und alle Kinder.
    [Lew Nikolajewitsch Tolstoj an Sofja Andrejewna Tolstaja]
    [22. Oktober 1884]
    [Jasnaja Poljana]
    Noch habe ich keinen Brief von Dir erhalten und empfinde Sehnsucht nach Dir und Euch allen – den Großen bis Andrjuscha (einschließlich). Die Kleinen sind Glück und Wohlgefallen, die Großen verdienen Interesse und eine eigene, schwierige Beziehung mit jedem einzelnen. – Heute hättest Du mich gescholten und hättest recht daran getan; ich habe mich schlecht betragen, und zwar wie folgt: Ich stand um 8 Uhr auf, räumte auf, trank Kaffee mit Dmitri Fjo[dorowitsch] und ging in den Garten – es war herrliches Wetter. Ich dachte mir, das sollte man nutzen, ich werfe nur schnell einen Blick in die Reinschrift. Ich ließ mich nieder, begann zu lesen und zu korrigieren, und saß bis 6 Uhr an der Arbeit. Und nun bin ich müde. Du wirst sagen: eine nichtige Beschäftigung. Mir selbst schien sie es auch. Doch dann erinnerte ich mich des Kapitels, das ich korrigierte und an dessen Bearbeitung ich am längsten saß – das Kapitel über die Erlösung und Göttlichkeit Christi 95 .
    Wie auch immer man darauf blicken mag: Für Millionen von Menschen ist diese Frage von größter Wichtigkeit, und daher ist es von großem Unterschied, ob man sie oberflächlich oder grundlegend analysiert – zumindest wenn die Schrift gelesen werden wird.
    Um 6 aß ich – Haferflockensuppe und in der Pfanne angebratene Buchweizenkascha –, wunderbar; ich las noch ein wenig und ging dann spazieren. Der Abend war nicht schlechter als der Tag – prachtvoll. Ich bin den Weg zur Kirche gegangen.
    [...] Wie wohl es mir hier auch ergehen mag, ich werde doch nicht lange ohne Euch sein können. Morgen werde ich sicher schon einen Brief von Dir bekommen.
    Lebe wohl, ich küsse Dich.
    [Sofja Andrejewna Tolstaja an Lew Nikolajewitsch Tolstoj]
    23. Oktober 1884
    [Moskau]
    Gestern erhielt ich Deinen Brief, und mir ward traurig zumute. Ich sehe, daß Du in Jasnaja geblieben bist, nicht, um Dich mit geistiger Arbeit zu beschäftigen, die ich höher als alles im Leben schätze, sondern um Robinson Crusoe zu spielen. Du hast Adrian nach Hause geschickt, der doch noch bis zum Ende des Monats einige Tage ohne Sorgen bei Dir verbringen wollte, Du hast den Koch nach Hause geschickt, der mit Vergnügen eine Gegenleistung für sein Altenteil erbrächte und wirst nun von morgens bis abends jene beschwerliche körperliche Arbeit verrichten, die gewöhnlich junge Kerle und Mägde verrichten. Da wäre es doch besser und nutzbringender, Du wärst bei Deinen Kindern. Du wirst hierauf gewiß erwidern, daß dieses Leben Deinen Überzeugungen entspricht, daß es Dir so gefällt, und dazu kann ich nur sagen: »Vergnüge Dich«, doch

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