Eine ehrbare Familie
zuverlässig. Er wird den Mund halten. Ich werde es tun, aber der Junge muß auch ein wenig Geld bekommen.»
«Geld bereitet keine Schwierigkeiten. Aber Sie tragen die Verant-wortung.» Er zog ein großes, zusammengefaltetes Stück Papier aus der Tasche. «Bevor ich gehe, müssen Sie sich diese Namen und Adressen, die ich hier habe, einprägen. Es ist mir egal, wie lange Sie dazu brauchen. Aber ich gehe erst, wenn ich sicher bin, daß Sie sie in- und auswendig können. Verstanden?»
Der Friseur nahm das Papier mit spitzen Fingern, als sei es Dynamit - was es in gewisser Weise auch war.
Der Mann, den der Friseur mit Herrn Weiß angesprochen hatte, bestieg um Mitternacht die Fähre nach Ostende.
Er stand an der Reling und starrte auf die Lichter Englands, die langsam in der kalten Nacht verblaßten. Doch seine Gedanken kreisten nicht um den Friseur, auch nicht um seine Arbeit in London. Gustav Steinhauer hatte wichtigere Dinge im Kopf, Dinge, die ihm einen enormen Einfluß, eine einmalige Machtposition in Preußen verschaffen würden.
Er war voller Ungeduld, nach Berlin zurückzukehren. Diese kleinen Beutezüge im Ausland waren wichtig, aber es waren die Sonderaufträge des Kaisers, die den Stolz seines Lebens ausmachten. Und der wichtigste Faktor in diesem Spiel war Hans-Helmut Ulhurt. Es hatte einige Monate gedauert, bis Ulhurt sich erholt hatte, und er war noch immer in einer Privatklinik und mußte lernen, mit einem Holzbein zu gehen. Aber er machte Fortschritte.
Das einzige, was Ulhurt zu beunruhigen schien, war die Tatsache, daß die Kaiserlich Deutsche Marine keine Anklage wegen der Schlägerei im «Büffel» gegen ihn erhoben hatte. Steinhauer hatte ihm gesagt, er solle sich keine Sorgen machen, was das deutsche Marineministerium beträfe, sei er von der Erdoberfläche verschwunden.
«Dafür aber gibt es eine Menge neuer Arbeit für Sie, die ganz gewiß auch jene Art von Schlägereien einschließt, die Ihnen anscheinend so viel Spaß machen. Setzen Sie Ihre ganze Energie ein, um wieder gesund zu werden, lernen Sie, sich genauso flink auf einem Bein zu bewegen wie zuvor auf zwei Beinen», hatte Steinhauer ihm geraten. «Mit der Zeit wird Ihnen das schon gelingen. Ihre Freunde müssen hohe Strafen wegen dieser Nacht in Kiel verbüßen. Tun Sie also, was ich Ihnen sage, und halten Sie den Mund. Befolgen Sie meine Befehle, dann wird Ihnen nichts passieren.»
Während seiner Rückreise nach Berlin überkam Steinhauer plötzlich ein ungutes Gefühl. Es war jetzt schon zwei Jahre her, daß der Kaiser ihn zu einer Privataudienz befohlen hatte - eine Ehre, für die er jahrelang gekämpft, geplant und intrigiert hatte.
Gustav Steinhauer stammte aus einer einfachen bürgerlichen Familie, aber durch einen erfolgreichen Onkel und eine in den Kleinadel eingeheiratete Kusine hatte er einen indirekten Zugang zum Hof.
Gustav war außergewöhlich begabt und überdies noch sehr fleißig. Mit fünfundzwanzig Jahren sprach er vier Fremdsprachen fließend, hatte einflußreiche Freunde erworben und sich im Auswärtigen Amt in der Wilhelmstraße eine Position erobert.
Es war während seines ersten Jahrs in der Wilhelmstraße, daß Gustav Steinhauer seine Vorliebe für Intrigen und Täuschungsmanöver entdeckte. Schon nach zwei Jahren war es ihm gelungen, häufig zwischen der Wilhelmstraße und dem Hof hin- und herzupendeln, um dem Kaiser und seinen Beratern Klatsch und Gerüchte zu hinterbringen, die sich als nützlich erweisen könnten.
Steinhauer hatte sich wohl gemerkt und vergaß es nie, daß der vor langer Zeit entlassene Bismarck sich, was geheime Nachrichten betraf, auf einen einzigen Mann und auf ein kompliziertes Spionagenetz verlassen hatte - der Mann hieß Eduard Stieber, er war verhaßt, aber mächtig gewesen. Steinhauers höchstes Ziel war, der Stieber des Kaisers zu werden. Kurz vor Weihnachten 1908 schien dieses Ziel unerwartet in greifbare Nähe zu rücken. Was damals besprochen worden war, hatte ihn schließlich zu dem Maat Ulhurt in Kiel geführt. Niemand in England, der mit der MI ic - dem Geheimdienst - und mit der winzigen MO5 in Verbindung stand, konnte die Rolle voraussehen, die Steinhauer und sein einbeiniger Schützling eines Tages spielen würden. Und ganz gewiß konnte keiner aus der Railton-Familie, selbst wenn sie von der Existenz des Mannes gewußt hätten, auch nur ahnen, welche Verheerung Steinhauer in ihrem engsten Umkreis anrichten würde.
Die Audienz beim Kaiser kam so unerwartet, daß
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