Eine ehrbare Familie
Steinhauer keine Zeit blieb, nachzudenken oder nervös zu werden. Er hatte seinen Onkel besucht und ihn in höchster Aufregung vorgefunden.
«Seine Majestät wünscht, dich zu sehen.» Onkel Brandt war erregt im Zimmer auf und ab gegangen. Er trug Uniform, da er an diesem Tag Dienst tat.
«Mich?» Steinhauer schluckte. «Wann?»
«Sofort. Der Hof begibt sich in zwei Tagen nach Österreich. Seine Majestät hat mich gestern zu sich beordert. Er fragte nach dir... Er erwartet dich jetzt.»
Wenige Minuten später wurde er durch die marmornen Korridore geleitet, und ehe er sich’s versah, stand er vor dem Kaiser, der ernst und etwas angsteinflößend aussah mit seinem hochgezwirbelten Schnurrbart und dieser seltsamen Aura von Macht und Würde, die ihn umgab.
Eine volle Minute lang musterte der Kaiser ihn von Kopf bis Fuß, als wolle er ihn abschätzen. Dann sprach er: «Sie sind Gustav Steinhauer vom Auswärtigen Amt?»
«Ja, Majestät.»
«Sie haben uns einige nützliche Informationen geliefert. Ich vertraue Ihnen.»
«Ich danke Euer Majestät.»
«Ich habe Arbeit für Sie, Steinhauer. Eine gefährliche, aber lohnende Aufgabe. Wollen Sie sie übernehmen?»
«Ich tue alles, was Majestät wünschen. Majestät brauchen nur zu befehlen. Für Euer Majestät und das Vaterland bin ich zu allem bereit.»
Der Kaiser nickte kurz. «Ausgezeichnet. Wie Sie wissen, ist meine große Leidenschaft die See. Es ist unbedingt notwendig, daß die Welt erkennt, daß das Vaterland und nicht England die Weltmeere beherrscht.» Er holte tief Luft, bevor er weitersprach. «Wenn Sie Ihren Dienst bei mir antreten, dürfen Sie das nie aus den Augen lassen.»
Dann fing der Kaiser an, in Einzelheiten zu gehen.
Gustav Steinhauer war entzückt, fast berauscht von der Macht, die in seine Hände gegeben worden war.
Als der Zug endlich in den Lehrter Bahnhof einlief, rief sich Gustav Steinhauer des Kaisers besondere Befehle, die er an jenem Tag vor Weihnachten 1908 erhalten hatte, erneut ins Gedächtnis.
Dem Kaiser war zu Ohren gekommen, daß das Armee-Oberkommando den gesamten Geheimdienst an sich reißen wollte, inbegriffen alle Agenten, die das Auswärtige Amt über ganz Europa verteilt hatte. Dieser Plan sollte innerhalb der nächsten zwei, höchstens drei Jahre in die Tat umgesetzt werden.
Der Kaiser hatte Steinhauer seine große Sorge anvertraut, daß sich diese Umstellung negativ auf die Geheimdienste auswirken würde, besonders was die Marine betraf.
«Mir ist völlig klar, Steinhauer», hatte Seine Majestät gesagt, «daß Ihre Position es Ihnen ermöglicht, mit den bereits in fremden Ländern stationierten Spionen Kontakt aufzunehmen. Aber diese Frauen und Männer werden unter der Kontrolle der Militärs stehen, wenn das Oberkommando sich durchsetzt. Was ich brauche, ist ein Mann, der einzig und allein für mich arbeitet. Und ich glaube, in Ihnen habe ich diesen Mann gefunden. Habe ich recht?»
«Selbstverständlich, Euer Majestät.»
«Nun gut. Dann werden Sie gewisse Dinge ausschließlich mir und mir allein berichten. Sie werden Ihren eigenen Agenten - einen Mann, der die See kennt, der mit Sabotage und anderen Spionagetricks vertraut ist - nach England einschleusen. Über diesen Mann haben Sie die volle Kontrolle. Und wer immer Ihre neuen Vorgesetzten sind, die Existenz dieses Mannes werden Sie ihnen nicht verraten.»
«Jawohl, Euer Majestät.»
«Gut!» Der Kaiser nickte kurz. «Ausgezeichnet. Nun, was diesen Mann betrifft: Er wird ein Schattendasein führen. Sie werden ihn ausfindig machen, ihn ausbilden und ins Ausland schicken. Die Berichte seiner Tätigkeit gehen an mich persönlich. Haben Sie mich verstanden?»
Steinhauer hatte seinen Monarchen genau verstanden. Er hatte elf mögliche Kandidaten unter die Lupe genommen, aber jeder hatte einen Makel. Und dann war er auf den Maat Hans-Helmut Ulhurt aufmerksam geworden - die ideale Lösung. Ein Mann, der alle Bedingungen erfüllte, aber auch ein Mann, den man nicht nur ausbilden, sondern auch zähmen mußte. Ein Mann, der Disziplin brauchte.
Nach seiner ersten Unterredung mit dem Kaiser, in deren Verlauf ihm seine Pflichten deutlich klargemacht worden waren, traf Gustav Steinhauer seine persönlichen Vorkehrungen für den Fall, daß irgend etwas schiefgehen sollte.
Es gelang ihm, noch zwei weitere Privataudienzen beim Kaiser zu bekommen und den eitlen Herrscher zu zwei Dingen zu überreden: Erstens zu einem Brief, aus dem klar hervorging, daß er, Steinhauer, im
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