Eine Evatochter (German Edition)
ließ seine ungestützte Größe, sein verkanntes politisches Genie, sein Leben ohne edle Neigung durchblicken. Ohne ein Wort davon zu sagen, suggerierte er der reizenden Frau, daß sie in seinem Leben die erhabene Rolle spielen sollte, die Rebekka in »Ivanhoe« spielt: ihn zu lieben, zu beschützen. Alles vollzog sich in den luftigen Gefilden des Gefühls. Die Vergißmeinnicht sind nicht blauer, die Lilien nicht reiner, die Stirnen der Seraphim nicht weißer als die Bilder, die Darstellungen und die klare, strahlende Stirn dieses Künstlers waren, der sein Gespräch in Druck geben konnte. Er spielte seine Schlangenrolle so gut, ließ den Apfel des Sündenfalls vor den Augen der Gräfin in so leuchtenden Farben prangen, daß Marie, als sie den Ball verließ, von Gewissensbissen gepeinigt wurde, die zugleich holde Hoffnungen waren. Sie fühlte sich durch seine Komplimente bestrickt, die ihrer Eitelkeit schmeichelten, fühlte ihr Herz bis in die tiefsten Falten aufgeregt, fühlte sich an ihren Tugenden gepackt, durch das Mitleid mit seinem Unglück verführt.
Vielleicht hatte Frau von Manerville Vandenesse bis in den Salon geführt, in dem seine Frau mit Nathan plauderte. Vielleicht war er auch von selbst hingekommen, um Marie zu suchen und nach Hause zu fahren. Vielleicht hatte seine Unterhaltung auch entschlafenen Kummer erweckt. Wie dem auch sei: als sie ihn um seinen Arm bat, sah sie, daß seine Stirn umwölkt, sein Ausdruck verträumt war. Die Gräfin fürchtete, daß sie gesehen worden wäre. Sobald sie mit Felix allein im Wagen saß, fragte sie ihn mit ihrem feinsten Lächeln:
»Unterhieltest du dich nicht mit Frau von Manerville, mein Lieber?«
Felix war noch nicht aus dem Dornengestrüpp dieses reizenden ehelichen Streites heraus, als der Wagen vor dem Hause vorfuhr. Das war die erste List der Liebe. Marie war stolz auf ihren Sieg über einen Mann, der ihr bisher so überlegen erschien. Sie genoß die erste Freude, die ein notwendiger Erfolg bereitet.
In einem Durchgang zwischen der Rue basse du Rempart und der Rue Neuve des Mathurins hatte Raoul im dritten Stock eines niedrigen, häßlichen Hauses eine öde, kahle, kalte Wohnung. Hier hauste er für die große Welt der Gleichgültigen, für angehende Literaten, für seine Gläubiger, für lästige Menschen und die verschiedenen Störenfriede, die an der Schwelle des Privatlebens bleiben sollen. Seine wirkliche Wohnung, in der er sein großes repräsentatives Leben führte, befand sich bei Fräulein Florine, einer Schauspielerin zweiten Ranges, die aber seit zehn Jahren von Nathans Freunden, den Zeitungen und einigen Schriftstellern zu einer der ersten Bühnengrößen erhoben wurde. Raoul hatte sich seit zehn Jahren derart an sie gehängt, daß er sein halbes Leben bei ihr verbrachte. Er aß bei ihr, wenn er keinen Freund einzuladen hatte oder in der Stadt essen mußte. Mit völliger Verdorbenheit verband Florine einen sprühenden Geist, den der Umgang mit Künstlern entwickelt hatte, und den ihr Verkehr täglich schliff.
Geist gilt bei Schauspielern ja als seltene Eigenschaft. Es ist so natürlich zu glauben, daß Leute, die ihr ganzes Leben nach außen projizieren, nichts Innerliches haben! Bedenkt man jedoch die geringe Zahl von Schauspielern und Schauspielerinnen, die in jedem Zeitalter leben, und die Menge von dramatischen Schriftstellern und verführerischen Frauen, die dieselbe Zeit hervorbringt, so darf man diese Ansicht widerlegen, denn sie beruht auf einer ewigen Kritik an den Bühnenkünstlern, denen man vorwirft, ihre persönlichen Empfindungen im plastischen Ausdruck der Leidenschaften zu verlieren, während sie dazu nur die Kräfte des Geistes, des Gedächtnisses und der Phantasie gebrauchen. Die großen Künstler sind Wesen, die nach Napoleons Wort die natürliche Verbindung zwischen Sinnlichkeit und Denken willkürlich aufheben. Molière und Talma waren auf ihre alten Tage verliebter als Durchschnittsmenschen. Florine, die gezwungen war, Journalisten reden zu hören, die alles erraten und berechnen, Schriftsteller, die alles voraussehen und sagen, und gewisse Politiker, die bei ihr verkehrten und sich die Einfälle eines jeden zunutze machten, war selbst ein Gemisch von Engel und Teufel und als solche würdig, diese durchtriebenen Leute zu empfangen. Sie setzte sie durch ihre Kaltblütigkeit in Entzücken.
Ihr Haus, durch galante Spenden verschönt, zeigte den übertriebenen Luxus der Frauen, die wenig nach dem Wert der Dinge fragen und
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