Eine ewige Liebe
Geister waren mehr als nur Dampf und Nebel. Sie waren genauso wirklich wie sie selbst, und sie warteten darauf, dass ihre alte Großmutter oder ihre Tantchen sie herbeiriefen. Sie waren auch nicht anders als die Lebenden.
Manche waren freundlich wie die Mädchen, die Himmel-und-Hölle oder ein Fadenspiel mit ihr spielten. Andere waren böse, wie der alte Mann, der bei Donner immer auf dem Friedhof in Waders Creek herumwanderte. Auf die eine oder andere Art waren alle Geister hilfreich oder lästig, je nachdem, in welcher Stimmung sie waren und was man ihnen anzubieten hatte. Es war immer eine gute Idee, ihnen ein kleines Geschenk mitzubringen. Das hatte sie von ihrer Großmutter gelernt.
Das Haus stand auf dem Hügel oberhalb des Bachs wie ein verwitterter blauer Leuchtturm, der den Toten wie den Lebenden den We g zurück nach Hause wies. Wenn es dunkel wurde, brannte immer eine Kerze im Fenster und ein Windspiel bimmelte über der Tür, und auf dem Schaukelstuhl wartete eine Pekannusstorte – falls jemand vorbeischaute. Was meistens auch der Fall war.
Die Leute kamen von weither, um Sulla, die Prophetin, zu sprechen. So nannte man sie, weil viele ihrer Weissagungen eingetroffen waren. Manchmal schliefen die Leute sogar auf dem kleinen Rasen vor dem Haus und warteten auf eine Gelegenheit, um mit ihr zu sprechen.
Aber für das Mädchen war Sulla einfach die Frau, die ihr Geschichten erzählte und ihr beibrachte, wie man sich die Schnürsenkel band und wie man eine knusprige Butterpastete machte. Die Frau mit dem Sperling, der zum Fenster hereingeflogen kam und sich auf ihre Schulter setzte, als wäre es der Ast einer alten Eiche.
An der Eingangstür hielt das Mädchen kurz inne und strich den R o ck glatt, ehe es eintrat.
»Großmutter?«
»Ich bin hier, Am arie.« Die Stimme war weich und kehlig, »wie Himmel und Honig«, sagten die Leute in der Stadt dazu.
Das Haus hatte nur zwei Zimmer und eine kleine Kochnische. Im Wohnzimmer arbeitete Sulla, las die Zukunft aus Tarotkarten und Teeblättern, fertigte Amulette und bereitete aus Wurzeln heilende Pasten zu. Überall standen Einmachgläser herum, die mit allem Möglichen gefüllt waren, von Hamamelis und Kamille bis zu Krähenfedern und Friedhofserde. Auf dem untersten R egal stand ein Glas, das Amarie öffnen durfte. Darin waren in dickes Wa chspapier eingewickelte Karamellbonbons. Der Arzt, der in Moncks Corner wohnte, brachte sie immer mit, wenn er vorbeikam, um Salben zu holen oder sich von Sulla die Karten lesen zu lassen.
»Amarie, komm jetzt her.« Sulla legte Karten auf den Tisch. Es waren nicht die Tarotkarten, aus denen die Damen von Gatlin und Summerville sich so gerne ihre Zukunft lesen ließen. Dies waren Karten, die Sulla nur dann hervorholte, wenn sie etwas Besonderes in Erfahrung bringen wollte. »Du weißt, wozu man die hier braucht?«
Amarie nickte. »Es sind die Karten der Vorsehung.«
»Das ist richtig«, sagte Sulla lächelnd. Ihre unzähligen dünnen Zöpfe fielen ihr über die Schulter, jeder war mit einer bunten Schnur umwickelt, darin eingeflochten der Wunsch eines Besuchers, der in Erfüllung gehen sollte. » Weißt du, warum sie anders aussehen als Tarotkarten?«
Amarie schüttelte den Kopf. Sie wusste, dass die Bilder auf den Karten sich sehr voneinander unterschieden. Da waren zum Beispiel Die blutende Klinge oder die Zwillinge, die sich gegenüberstanden und die Hände anei nanderlegten.
»Die Karten der Vorsehung sagen die Wahrheit. Sie werfen einen untrüglichen Blick in die Zukunft, auch wenn ich das manchmal gar nicht wissen will. Das kommt ganz darauf an, wessen Zukunft ich daraus lese.«
Das kleine Mädchen war verwirrt. Sagten nicht auch die Tarotkarten die Zukunft voraus, wenn ein kundiger Kartenleger das Blatt deutete? »Ich dachte, alle Karten sagen die Wa hrheit, wenn man sie zu lesen versteht.«
Der Sperling flog zum offenen Fenster herein und setzte sich auf die Schulter der alten Frau. »Es gibt Wahrheiten, die man ertragen kann, und solche, die man nicht ertragen kann. Komm her und setz dich, ich werde dir zeigen, was ich meine.« Sulla mischte die Karten, die Zornige Königin verschwand hinter der Schwarzen Krähe.
Mit einer schnellen Bewegung aus dem Handgelenk fächerte sie die Karten auf dem Tisch aus. Ihre Halsketten klimperten – silberne Amulette mit eingravierten Zeichen, die Amarie nicht deuten konnte, handbemalte Holzkugeln, Steinchen und bunte Kristalle, die das Licht bei jeder Bewegung
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