Eine ewige Liebe
Geisterbissen.
»Nein.« Mit riesengroßenAugen starrteAmma auf den Kuchen, den Löffel noch immer hoch erhoben. »EthanWate, bist du das?«
Ich nickte, obwohl sie mich nicht sehen konnte.Anscheinend merkte sie trotzdem etwas, denn sie ließ den Löffel sinken, fiel auf den Stuhl an der anderen Seite desTisches und brach inTränen aus. Zwischen ihren Schluchzern hörte ich die geflüstertenWorte: »Mein Junge.«
Mit zitternden Händen hielt sie sich an der Tischkante fest. Amma war vielleicht eine der größten Seherinnen im Küstentiefland, aber sie blieb immer noch eine Sterbliche.
Ich dagegen war zu etwas anderem geworden.
Ich legte meine Hand auf ihre, und ich hätte schwören können, dass sie ihre Finger mit meinen verschränkte. Sie wiegte sich sachte vor und zurück, wie sie es immer tat, wenn sie eines ihrer Lieblingskirchenlieder sang oder kurz vor der Lösung eines besonders kniffligen Kreuzworträtsels stand.
»Ich vermisse dich, EthanWate. Mehr als du dir vorstellen kannst. Kann nicht mal mehr mit meinen Rätseln was anfangen. Hab vergessen, wie man einen Braten macht.« Sie fuhr sich über dieAugen und presste ihre Hand auf die Stirn, als hätte sie Migräne.
Ich vermisse dich auch, Amma.
»Geh nicht zu weit weg von zu Hause – noch nicht. Hast du gehört? Ich habe dir noch ein paar Sachen zu erzählen.«
Ich werde nicht weggehen.
Lucille leckte ihre Pfote und fuhr sich damit über die Ohren. Dann sprang sie leichtfüßig vomTisch, maunzte ein letztes Mal und lief zurTür.An der Schwelle blieb sie stehen und blickte sich erwartungsvoll nach mir um. Ich hörte ihre Gedanken so klar und deutlich, als würde sie tatsächlich zu mir sprechen:
Wird’s bald? Heb deinen Hintern, Junge. Ich hab nicht den ganzen Tag Zeit.
Ich drehte mich um und umarmteAmma, drückte sie an mich wie schon Tausende Male zuvor.
Lucille maunzte und legte den Kopf schief.Also tat ich das, was ich immer getan hatte, wenn es um diese Katze ging. Ich folgte ihr nach draußen.
Zerbrochene Flaschen 8.
Kapitel
Lucille kratzte an Am mas Zimmertür, bis sie einen Spalt weit aufging. Ich huschte gleich hinter ihr hindurch.
InAmmas Zimmer sah es einerseits schlimmer, andererseits aber auch besser aus, als ich es in Erinnerung hatte. Das letzte Mal war ich in der Nacht hier gewesen, in der ich vomWasserturm gesprungen war. Damals hatten weder die Salzfässchen noch die Steine und die Friedhofserde – allesamt Zutaten für Ammas verschiedene Zaubermittelchen – an ihrem Platz auf dem R egal gestanden, ebenso wenig wie die mindestens zwei Dutzend anderen Flaschen. Ihre » R ezepthefte« waren auf dem ganzen Fußboden verstreut und weit und breit war kein einziges Amulett, kein einziges Püppchen zu sehen gewesen.
Das Zimmer hatte Ammas Seelenzustand widergespiegelt. Es hatte so verlassen und verzweifelt ausgesehen, dass es wehtat, sich daran zu erinnern.
Heute war es wie verwandelt, aber auch jetzt spiegelte das Zimmer ihr Innerstes wider und war voll von Dingen, die sonst niemand sehen durfte.An Fenstern undTüren hingen massenweise neueAmulette. Schon die alten waren unübertroffen gewesen, aber diese hier waren noch viel kunstvoller.Amma hatte sorgfältig Steine um das Bett herum angeordnet,Weißdornbüschel an die Fenster gebunden und R o senkränze mit kleinen silbernen Heiligenfigürchen und anderen Sinnbildern um die Bettpfosten drapiert.
Sie hatte die allergrößtenAnstrengungen unternommen, damit etwas ganz Bestimmtes nicht in ihr Zimmer gelangen konnte.
DieVorratsgläser standen immer noch dicht an dicht, aber jetzt waren auch die anderen R egale wieder voll, und zwar mit Glasflaschen in Grün, Braun und Blau. Ich erkannte sie sofort wieder.
Sie stammten von dem Flaschenbaum aus unseremVorgarten.
Amma hatte sie abgehängt.Vielleicht fürchtete sie sich jetzt nicht mehr vor bösen Geistern.Vielleicht wollte sie auch nur nicht den falschen einfangen.
Die Flaschen waren leer und trotzdem mit einem Korken verschlossen. Ich berührte eine kleine bläulich-grüne Flasche, die einen Sprung an der Seite hatte. Langsam und ungefähr so mühelos, wie ich Links Schrottkiste an einem heißen Sommertag dieAnhöhe von Ravenwood hinaufschieben würde, zog ich den Korken aus dem Flaschenhals.
Das Zimmer um mich herum verschwamm vor meinenAugen …
Die Sonne brannte heiß und die Nebel vom Sumpfland erhoben sich wie Geister über dem Wasser. Aber das kleine Mädchen mit den ordentlich geflochtenen Zöpfen hatte keine Angst.
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