Eine Familie für Julianne
würde das Kind nicht so einfach hergeben. Und je länger Pippa bei ihr blieb, desto schwieriger würde es werden, sie zu trennen.
Kevin zog sein Handy aus der Tasche und drückte mit wild klopfendem Herzen die Kurzwahltaste. Sein Vater nahm nach dem ersten Klingeln ab.
3. KAPITEL
Fast jeden Abend, wenn die Sonne nicht mehr so auf die Stadt herunterbrannte, setzte Julianne Pippa in den Kinderwagen und machte mit ihr einen Spaziergang. Die Ausflüge taten beiden gut: Pippa lernte neue Geräusche und Gerüche kennen, und Julianne kam aus dem Haus, ohne sich mit anderen Menschen abgeben zu müssen. Manchmal begegnete ihnen ein Jogger oder Radfahrer, aber meistens waren sie auf ihrer Route ganz allein.
Julianne liebte die Stille und hasste sie gleichzeitig.
Einerseits kam sie auf diesen Spaziergängen zur Ruhe, andererseits boten sie viel zu viel Gelegenheit zum Nachdenken. An diesem Abend kreisten ihre Gedanken natürlich nur um ein Thema: Kevin Vaccaro.
Was würde er tun? Ihnen das Kind wegnehmen? Und wenn ja, wann? Würden sie Pippa dann je wiedersehen? Gab es eine Lösung, bei der niemand leiden musste?
Niemand hat dich gezwungen, ihm die Wahrheit zu sagen.
Seufzend bog sie um die Ecke. Niemand, außer ihrem Gewissen. Sie hatte damit leben können, Kevin Vaccaro nicht zu suchen. Aber ihm die Wahrheit zu verschweigen, als er plötzlich vor der Tür stand? Unmöglich. Sie hatte das Richtige getan. Jetzt konnte sie nur darauf vertrauen, dass auch Kevin das Richtige tun würde …
Als sie aufblickte, sah sie vor dem Haus ihres Vaters einen zerbeulten Pick-up-Truck parken. Daneben stand Kevin Vaccaro.
„Woher wussten Sie, dass wir nicht drinnen sind?“, rief Julianne ihm zu, bevor ihr auffiel, wie anders er jetzt aussah.
In verwaschenen Jeans und T-Shirt lehnte er lässig an der Motorhaube und blickte ihnen durch eine verwegene, dunkle Sonnenbrille entgegen.
„Ich bin unterwegs an euch vorbeigefahren“, erwiderte Kevin. Auch seine Stimme klang anders – tiefer, selbstsicherer. „Haben Sie mich nicht gesehen?“
Julianne schüttelte den Kopf. Unglaublich, wie er sich in knapp sechs Stunden verändert hat, schoss es ihr durch den Kopf. Die Jeans standen ihm viel besser als die Kakihosen, zumal sie auch viel besser saßen. Jetzt wirkte er nicht mehr wie ein großer Junge, sondern nur noch … attraktiv.
„Was …“ Sie schluckte und setzte mit normaler Stimme noch einmal an. „Was machen Sie hier?“
„Ich habe doch gesagt, dass ich zurückkomme.“ Er nahm die Sonnenbrille ab und schaute ihr kurz in die Augen, dann hockte er sich vor den Kinderwagen und lächelte seine Tochter absolut herzzerreißend an.
„Und hier bin ich“, fügte er mit samtweicher Stimme hinzu, die in Julianne einen wohligen Schauer auslöste, auf den sie gut hätte verzichten können.
Verflixt, er machte sie nervös. Was sicherlich vorteilhaft war, schließlich wollte er hier die Oberhand gewinnen. Aber zugleich kam Kevin sich vor, als ob er ein halb verhungertes Rehkitz ängstigte.
Julianne hatte ihn durchs Haus auf die Terrasse geführt. Der Garten war ein Blumenmeer – sattgrüner Rasen mit blühenden Büschen und Bäumen. Es gab einen Pool und im Hintergrund einen größeren, hübschen Schuppen, vielleicht eine Werkstatt.
„Haben Sie schon etwas gegessen?“, fragte Julianne, als sie Pippa aus dem Kinderwagen hob.
Kevin drehte sich zu ihr um. Alles an Julianne wirkte etwas kantig – der schmucklose Pferdeschwanz, das sackartige Sommerkleid. Das vielleicht gar nicht so an ihr herunterhängen müsste, wenn sie etwas mehr äße. Sicher, es gab Frauen, die einfach eine knabenhafte Figur hatten, aber bei Julianne war das wohl eher nicht der Fall. Und wieso spielte sie jetzt die perfekte Gastgeberin?
„Ja, danke. Ich war bereits etwas Essen. Ich habe mir das regelmäßige Essen durch die Treffen wieder angewöhnt.“
„Die Treffen …? Oh. Die Treffen. Kapiert.“ Kevin konnte den Blick nicht von seiner Tochter abwenden, die in Juliannes Armen zufrieden mit ihren Fingern spielte. Bis vor zwei Minuten hatte er vorgehabt, Julianne und Victor geradeheraus zu sagen, was er plante – bevor sie Zeit hatten zu reagieren und bevor er den Mut verlor. Doch jetzt dachte er, dass es vielleicht doch besser wäre, nicht gleich mit der Tür ins Haus zu fallen, sondern es ihnen schonend beizubringen.
„Darf ich sie mal halten?“
„Natürlich“, erwiderte Julianne, trat auf ihn zu und reichte ihm das Kind. Pippa merkte nicht
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