Eine Feder aus Stein
ich fragte mich, ob überhaupt irgendjemand davon Notiz genommen hatte. Bei allem, was so vor sich gegangen war … Cerises Tod. Aber ich hatte sie gesehen. In meiner Vision. Jetzt war mein Bild von dem, was Melita getan hatte, sehr viel vollständiger, und ich glaubte zu verstehen, wie und weshalb es funktioniert hatte. Doch ich musste noch weitere Nachforschungen anstellen. Vor allem da Daedalus immer noch so brachial nach vorne preschte, um seinen Plan, den Ritus erneut zu vollziehen, durchzusetzen.
Ich hatte viel darüber nachgedacht. Über die Unsterblichkeit. Der Gedanke hatte sich in meinem Kopf festgesetzt und nahm nun langsam Gestalt an. Unsterblichkeit. Immer weiter und weiter. Wie würde es in zweihundert Jahren sein? Wie würde es sein, nie Angst vor dem Tod haben zu müssen? Wobei mir nicht ganz klar war, wie das Ganze überhaupt funktionierte – ich meine, könnte jemand aus der Treize einfach so von der Klippe springen und danach wieder aufstehen wie Wile E. Coyote von den Looney Tunes? Und wie würde es sich anfühlen, in dem Zustand festgefroren zu sein, in dem ich jetzt war? Jung und stark und schön? Ich würde nie altern, nie graues Haar und Falten bekommen, nie würde etwas an mir herunterhängen. Und ich würde mein ganzes Leben lang Magie studieren können. Wo stünde ich mit meinen Kräften, hätte ich erst mal hundert Jahre der Übung im Rücken? Würde ich einfach immer stärker werden?
Das Ganze begann, sich verdammt gut anzuhören.
Natürlich wollte ich während des Ritus, für den Daedalus gerade jedes einzelne Mitglied der Treize nach New Orleans rief, nicht sterben.
Aber … würde mir Thais zustimmen? Könnte ich es ertragen, unsterblich zu sein, während sie selbst immer älter wurde und irgendwann starb? Klar, ich hatte erst seit ein paar Monaten eine Schwester, aber immerhin war sie mein Ebenbild. Das wäre ungefähr so, als würde ich mich selbst altern und sterben sehen. Jetzt, da wir uns kannten, waren wir miteinander verbunden. Vereinigt sozusagen. Und die Verbindung wurde mit jedem Tag, der verging, stärker. Würde ich es ertragen, wenn sie eines Tages abbrechen würde?
Neben mir setzte Melysa die anderen Baby-Kohlpflanzen ein. Ich machte mein Beet so weit fertig und kniete mich hin, um kurze Reihen winziger Rettichsamen in die Erde rieseln zu lassen. Es war fast Oktober, immer noch genug Zeit für eine weitere Rettichernte. Und Kohl gedieh gut bei kälteren Temperaturen – so bei zehn Grad zum Beispiel. Seufzend strich ich mir das Haar aus dem Nacken.
»Red ruhig«, sagte Melysa.
Ich blickte auf. »Oh … Na ja, ich habe gerade über ein paar Dinge nachgedacht«, erwiderte ich. »Hör mal … weißt du über den ursprünglichen Zauber der Treize Bescheid?«
Melysa wirkte überrascht. Sie war das einzige Nicht-Mitglied der Treize, das von Nans famille und ihrer ganzen durchgeknallten Vergangenheit wusste.
»Nun ja, ein bisschen schon«, sagte sie. »Ich weiß nicht, ob es jemanden gibt, der über jedes Detail oder über alle Kräfte, die daran mitgewirkt haben, Bescheid weiß. Das tun ja noch nicht mal die … die dabei waren.«
Daedalus behauptet das aber, dachte ich. Er sagt, er wisse genug, um den Zauber noch einmal genau so zu erschaffen.
Und er wolle es mir beibringen.
Ich verscheuchte den Gedanken aus meinem Kopf.
»Und was wäre die Basis des Zaubers?«, fragte ich beharrlich.
Melysa runzelte leicht die Stirn, während sie mehrere kleine Kürbisse von der Ranke abschnitt, die an unserem Zaun emporkletterte. »Warum willst du das wissen?«
»Ich bin nur neugierig. Das Ganze kommt mir so unglaublich vor, so ganz anders als alles, was wir normalerweise tun.«
Als sich unsere Blicke trafen, lag ein ernster Ausdruck in ihren Augen.
»Ja, das ist es«, sagte sie. »Und zwar aus gutem Grund. Diese Art von Magie hat nichts Positives und trägt auch nichts Gutes zur Welt bei. Im Gegenteil, sie ist schädlich, schafft eine unnatürliche Situation und beeinflusst andere Menschen gegen ihren Willen oder ohne dass sie davon wissen. Sie ist verboten.«
»Verboten? Wissen denn die Leute genug über diese Magie, um sie derart zu verteufeln? Der Zauber mit der Treize war doch das einzige Beispiel für sie, oder nicht?«
Melysa, die ich normalerweise fast alles fragen konnte, wirkte auf einmal ungewöhnlich verschlossen. Sie antwortete nicht, und ich spürte, wie mich eine Welle der Erregung durchflutete. Hieß das etwa, dass es noch mehr Zauber wie den von Melita
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