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Eine Frage der Schuld - Mit der Kurzen Autobiographie der Graefin S A Tolstaja

Titel: Eine Frage der Schuld - Mit der Kurzen Autobiographie der Graefin S A Tolstaja Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sofja Tolstaja Ursula Keller Alfred Frank Ursula Keller
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Ehre zu erweisen und mit mir zu fahren.»
    Anna wollte widersprechen, doch Bechmetew sah sie so beschwörend und entschieden an, daß ihr die Worte auf den Lippen erstarben. Mit ritterlicher Geste reichte er ihr den Arm, ließ sie Platz nehmen und setzte sich neben sie, in seinen Mantel gehüllt und um die Beine eine Decke gewickelt.
    Alle Kutschen setzten sich in Bewegung.
    «Nach rechts», ordnete Bechmetew plötzlich an, und sie bogen in einen alten Kiefernwald ein,
durch den ein schmaler schattiger Weg führte.«Wir machen einen Umweg - hier ist es so schön!»sagte er.
    Als sie allein waren, fühlte Anna Gewissensbisse ob dieser Zweisamkeit. Die Nähe Bechmetews erregte sie auf schmerzliche Weise; der Anblick seines Vergehens machte sie so verzweifelt, daß sie minutenlang fürchtete, die Beherrschung zu verlieren und loszuschluchzen, loszuschreien - etwas Unkontrolliertes zu tun. Sie schloß die Augen oder sah schweigend zur Seite, die Hände an Brust und Herz gedrückt, als wollte sie das Leben in sich zum Stillstand bringen.
    Kann der Tod - diese zerstörerische alltägliche Erscheinung des Lebens - erhaben, schön und bedeutsam sein? Dieser Tag, der 22. August, war für Anna ein Tag des feierlich-schönen und stummen Dahinsterbens - um sie herum und in ihr. Die kalte, durchsichtige Luft gemahnte an die Nähe des Herbstes - des Vergehens der Natur. Und ihr wehmütig gestimmter ausgezehrter Begleiter gemahnte an die Nähe des Todes. Das leidgeprüfte Herz hatte seine Lebensenergie eingebüßt. Tod, Tod allenthalben und hier ganz nahe - das war schrecklich, und Anna packte die Angst, daß er sich jeden Moment auch ihrer bemächtigen könnte.

    Sie fuhren tiefer in den alten Kiefernwald hinein. Die hundertjährigen Bäume, reglos und dunkel, ließen kaum die grellroten Strahlen der untergehenden Sonne durch, die die kleinen Lichtungen, die sie hin und wieder überquerten, in besonders leuchtende Helligkeit tauchten.
    «Das ist für immer unsere letzte gemeinsame Ausfahrt», dachte Anna mit einem Blick zu Bechmetew.
    Er spürte ihn und sagte:«Es ist doch schön hier?»
    «Ja, wundervoll, aber wozu unternehmen Sie diese Fahrt? Es ist so feuchtkalt heute.»
    «Macht nichts, fahren wir weiter, immer weiter. Ach, wie schön! Noch nie ist es so schön gewesen. Schauen Sie sich diesen Wald an diesem See an, niemals mehr werden wir hier sein, sehen Sie genau hin, ich liebe diese Gegend über alles: Wald und Seen, was kann schöner sein?»
    «Ja, bald wirst du niemals mehr irgendwo sein können!»sagte Anna in Gedanken und faßte unwillkürlich nach Bechmetews Hand.
    «Ist Ihnen kalt? Was für kalte Hände Sie haben! »
    «Kann es wirklich sein, daß er stirbt?»dachte sie.«Und so werden wir einander nie ein Wort sagen; und so, einander liebend in reiner, uneigennütziger
Liebe, müssen wir beide, er sterbend und ich - leider! - am Leben bleibend, unser Glück opfern, jenes kleine Glück, einander sagen zu können, wieviel wir uns in diesen Jahren bedeutet haben; wie wir uns gegenseitig unser Ungemach erträglicher, ja vergessen machten in der reinen Atmosphäre der Liebe, in der jede Minute von unserer geistigen Kommunikation erfüllt war.»
    Wog die bedenkliche Kälte, das egoistische und sinnliche Verhalten, das sie die ganze Zeit bei ihrem gesitteten, gutaussehenden Mann erlebte, dieses Opfer auf?«Aber kann ich denn für irgend jemanden meine Reinheit bewahren?»überlegte Anna weiter.«Nein, für niemanden auf der Welt, das ist eine Lüge... Ich habe sie bewahrt, weil ich sie liebte ; sie ist für mich von höchstem Wert, und wenn mir dieser Mann so viel bedeutet, dann allein deshalb, weil er von gleicher Art ist.»
    Als erwidere er ihren Gedanken, äußerte Bechmetew plötzlich:«Diese Ausfahrt, Fürstin, ist unser endgültiges Abschiednehmen. Morgen reise ich ab, und wir werden uns aller Wahrscheinlichkeit nie mehr wiedersehen.»Er schwieg eine Weile.
    «Ich möchte Ihnen sagen»- wieder stockte
er -,«daß in meinem Leben das Freudvollste mein Zusammensein... nein, ich muß die Wahrheit sagen... meine Bekanntschaft mit Ihnen war.»
    Anna wollte etwas entgegnen, vermochte es jedoch nicht. Die Kehle war ihr wie zugeschnürt.
    Bechmetew fuhr fort:«Nie zuvor bin ich einer Frau begegnet mit einer solchen Aureole der Reinheit, Klarheit und Liebe zu allem Erhabenen, wie sie Sie umgibt. Was immer sein mag, Fürstin, Gott gebe Ihnen eines: das zu bleiben, was Sie sind.»
    Die Kutsche rollte weich gefedert den Waldweg

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