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Eine Frage des Herzens

Eine Frage des Herzens

Titel: Eine Frage des Herzens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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Bernie kannte den Lieblingsplatz, an dem sie sich oft mit ihrem Malkurs aufhielt, und steuerte ihn an. Unterwegs entdeckte sie Hecken, die dringend gestutzt werden mussten, Steine, die von den Mauern heruntergefallen waren, Unkraut, das am Rande des Weges wucherte. Sie schluckte, bemüht, Ruhe zu bewahren.
    Auf dem Kamm einer niedrigen Anhöhe angekommen, sah sie Honor und ihre Schülerinnen auf halber Höhe des nächsten Hügels. Bernie folgte der Steinmauer, die talwärts führte. Sie schritt zügig aus, der Schleier wehte hinter ihr her. Honor hatte sie noch nicht bemerkt; sie ging gemächlich zwischen ihren Schülerinnen hin und her und beugte sich gelegentlich vor, um Aquarelle zu bewundern oder Ratschläge zu geben. Bernie sah, wie sich die Mädchen auf ihre Arbeit konzentrierten, den Pinsel in die kleinen Wasserflaschen tauchten und versuchten, die Szenerie auf Leinwand zu bannen.
    »Ausgezeichnete Arbeit, Mädchen«, rief Honor. »Nutzen wir die Gelegenheit, uns noch einmal die Lichtqualität im Star of the Sea bewusst zu machen. Ist sie nicht einzigartig? Wenn ihr ebenfalls zu dieser Schlussfolgerung gelangt seid, befindet ihr euch in guter Gesellschaft. Zur Jahrhundertwende, als die Künstlerkolonie Black Hill entstand, fühlten sich viele Maler wegen des Lichts zu dieser Hügellandschaft hingezogen.«
    »Die amerikanischen Impressionisten?«, fragte Megan Bailey, die im Schneidersitz dasaß, den Rücken an die Mauer gelehnt.
    »Und die Künstler der Barbizon-Schule?«, rief Heather McDonough, die sich weiter oben auf der Anhöhe befand.
    »Ja«, erwiderte Honor, »sehr gut. Sie glaubten, das Licht in Black Hall sei ähnlich beschaffen wie das im Umkreis von Fontainebleau oder Barbizon in Frankreich. Es ist einmalig, schwer fassbar, ein Traum für jeden Maler. Wisst ihr auch, warum?«
    »Es verleiht der Landschaft Lebendigkeit«, sagte Agnes Sullivan. Bernie blieb stehen und wartete, dass ihre Nichte fortfuhr. Johns und Honors mittlere Tochter war schüchtern und spirituell, eine hochbegabte Künstlerin, die ihren Eltern in nichts nachstand. Sie besuchte den Malunterricht ihrer Mutter und fühlte sich in ihrer häuslichen Umgebung am wohlsten. Und sie fühlte sich den Küstenbewohnern zutiefst verbunden.
    »Lebendigkeit? In welcher Hinsicht?«, fragte Jenny Kilcoman. »Ich sehe nur Felsen, Gras und Rebstöcke.«
    Agnes zögerte. Sie scheute sich wie immer, ihre Meinung zu äußern. Doch da ihre Liebe zur Malerei groß war und sie einen Hang zur Mystik hatte, in allem Sein die kosmische Energie wahrnahm, überwand sie ihre Hemmungen. »Das Licht bewegt sich«, erklärte sie. »Es verändert sich fortwährend, je nach Tageszeit und Bewölkung. Es ist zu jeder Jahreszeit anders. Und alles, was es berührt, wandelt sich mit ihm. Wie diese Steinmauer.« Sie deutete darauf. »Sie schimmert wie Silber, wenn die Sonne scheint, wirkt aber schwarz und düster, wenn die Sonne hinter einer Wolke verschwindet.«
    Als sich Honor ihrer Staffelei zuwandte, erblickte sie Bernie auf dem Weg. Über Kamelhaarhosen und Pullover trug sie ein abgelegtes Hemd von John als Malkittel, das vorne mit Farbe verschmiert war. Die Ärmel hatte sie hochgekrempelt. Ihre hellbraunen Haare hatte sie zum Pferdeschwanz gebunden und eine Baseballkappe aufgesetzt.
    »Hallo!« Honor gesellte sich lächelnd zu ihr.
    »Malt ihr heute im Freien?«
    »Ja.« Honor blickte sich zufrieden um. »Der Tag ist zu schön, um im Atelier zu bleiben. Ich bin froh, dass du die Gelegenheit ergriffen hast, ein bisschen frische Luft zu schnappen. Ich weiß, dass du voll ausgelastet bist.«
    Bernie nickte. »Ja, das Schuljahr hat begonnen, die Weinlese steht bevor, und alles geht den Bach runter.«
    »Den Bach runter?«, fragte Honor, um einen unbeteiligten Gesichtsausdruck bemüht.
    »Ja. Die Sturmböen am letzten Wochenende haben zwei Äste des Zuckerahornbaums hinter dem Kloster niedergerissen. Einer ist direkt über die Mauer gefallen und hätte um ein Haar eine Novizin erschlagen.«
    »Alles in Ordnung mit ihr?«
    Bernie zuckte mit den Schultern. »Sie sieht darin ein Zeichen
,
ihr Gelübde zu überdenken. Das Letzte, was ich von ihr gehört habe, war, dass sie mit ihrer Mutter in Norwalk telefoniert hat.«
    »Zeichen können sehr machtvoll sein«, erwiderte Honor sanft.
    Bernie warf ihr einen scharfen Blick zu, nach einer versteckten Anspielung Ausschau haltend. Doch Honor reagierte nicht. »Wie auch immer«, sagte Bernie, »ich habe dich gesucht, weil ich

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