Eine Frage des Herzens
hat gesehen, wie du den Habit abgelegt hast, und daraus die Schlussfolgerung gezogen, du hättest endlich erkannt, dass du zu ihm gehörst.«
»Hat er das zu John gesagt?«
»Ja, und das wundert mich nicht. Bernie, ich liebe dich, du bist meine beste Freundin. Ich kenne dich ziemlich gut, also spar dir die Mühe, mir zu erzählen, dass du dir das nicht denken konntest. Oder nicht bemerkt hast, dass er glaubte, du wärst zu diesem Schluss gelangt.«
»Honor, ich habe den Habit abgelegt, weil ich die Begegnung mit meinem Sohn nicht beeinflussen wollte. Er sollte mich nicht als Nonne sehen, bevor ich die Chance hatte, mich ihm als seine Mutter zu erkennen zu geben.«
Honor nickte. Sie ergriff Bernies Hand mit ihren von Farbe verschmierten Händen. »Natürlich glaube ich dir das, und ich kann deine Überlegungen nachvollziehen, aber abgesehen von Seamus – kannst du dir vorstellen, was Tom in dem Moment empfunden haben muss? Und noch etwas, Bernie … Ich schwöre, ich möchte es dir nicht noch schwerer machen, als es ohnehin schon ist, aber verbarg sich dahinter nicht vielleicht ein eigener Wunsch?«
Bernie schuldete es der langjährigen liebe- und vertrauensvollen Beziehung zu Honor, dass sie sich nicht wortlos umdrehte und ging. »Was soll ich mir denn gewünscht haben?«
»Ein Leben mit Tom. Könnte ich mir vorstellen.«
»Diesen Gedanken habe ich vor langer Zeit aufgegeben.« Bernie sah Honor eine Weile an und nahm deren Zweifel wahr. Dann warf sie einen Blick auf die Uhr und trat den Rückzug an. »Ich muss los, ich muss mich noch mit der Zulassungsstelle in Princeton in Verbindung setzen. Monique Blaschka möchte sich dort, und nur dort, um einen Studienplatz bewerben. Du weißt ja, diese frühzeitigen Bewerbungen an einer einzigen Universität sind verbindlich, und ich möchte herausfinden, wie ihre Chancen stehen. Also, nochmals danke, dass John und du bei der Weinlese einspringt.«
»Für unsere Bernie doch immer.« Honor umarmte sie.
Als sich Bernie nach ein paar Sekunden löste und zum Hügel hinüberblickte, sah sie, dass einige Schülerinnen sie beobachteten. Es gab Direktorinnen, die ihre Gefühle niemals vor ihren Schützlingen gezeigt hätten, sondern eine undurchdringliche Mauer zur Abwehr menschlicher Emotionen um sich errichtet hatten. Bernie gehörte nicht zu ihnen. Sie wusste im tiefsten Inneren ihres Seins, dass die Liebe die wichtigste Lektion war, die sie ihren Schülerinnen beibringen konnte – die Fähigkeit, das Herz zu öffnen, für die Welt und füreinander.
Vielleicht ist das Tom Kellys Vermächtnis, dachte sie. Seine Gegenwart in all den Jahren hatte sie daran erinnert, dass Gottes Liebe durch die Menschen spürbar wurde – in der stillen Beredtheit, mit der er seine körperlich anstrengende Arbeit verrichtete, in der Art, wie er ihre Wahl und Entscheidungen respektierte, oder wenn sie jemanden brauchte, bei dem sie Probleme und Kümmernisse abladen konnte, ganz gleich, ob es um Schwierigkeiten mit dem neuen Bewässerungssystem oder eine Schülerin ging, die sich bei einem Fußballspiel verletzt hatte.
»Alles in Ordnung mit dir?«, fragte Honor.
»Alles bestens. Ich bin froh, dass wir miteinander geredet haben. Wo immer Tom auch sein mag, ich bin sicher, er hat die richtige Wahl getroffen. Ich wünsche ihm nur das Beste.«
»Aha.« Honor runzelte abermals die Stirn, bevor sie sich umdrehte und zu ihrer Malklasse zurückkehrte.
Bernie fing Agnes’ Blick auf, als sie sich zum Gehen anschickte. Ihre mittlere Nichte stand ihr in mancher Hinsicht am nächsten. Manchmal hatte sie sogar überlegt, ob Agnes vielleicht zur Ordensfrau berufen war. Doch dann war Brendan McCarthy aufgekreuzt, und die Frage hatte sich erübrigt, zumindest vorläufig.
Auch nach Toms Weggang arbeitete Brendan weiter als Mitglied der Gartenbaumannschaft. Bernie bemerkte ihn nun auf der benachbarten Anhöhe, wo er im Weingarten arbeitete. Seine roten Haare glänzten im Sonnenlicht. Sie hatte ein flaues Gefühl in der Magengrube, wie bei einer Talfahrt in der Achterbahn.
Agnes und Brendan hatten offenbar ein System entwickelt, sich über die Entfernung hinweg zu verständigen. Bernie sah, dass Agnes eine silberne Farbdose aufblitzen ließ und Brendan das Signal mit der Klinge seines Taschenmessers erwiderte. Sie dachte daran, wie gut die junge Liebe auf diesen Hügeln gedieh – John und Honor, Bernie und Tom und nun Agnes und Brendan.
Dann dachte sie an einen anderen rothaarigen jungen Mann, in
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