Eine Frage des Herzens
gesagt hatte, musste er lediglich in ein Flugzeug steigen. Seamus’ Herz klopfte, als »Große Liebe« in Stereo erklang.
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D ie Granitgebäude, gotisch, was Architekturstil und geistiges Format betraf, lagen eng zusammengedrängt am Ende des langen Kiesweges, der von der Route 156 abzweigte und zwischen zwei imposanten steinernen Torpfosten hindurchführte, von denen einer das Schild
Star of the Sea Academy
trug.
Francis X. Kelly hatte das Anwesen dem Orden Notre Dame des Victoires vermacht, so dass der ehemalige Speisesaal der Familie den Nonnen nun als Refektorium diente. Die Kinderzimmer wurden als Unterkunft für die Internatsschülerinnen genutzt; in dem Flügel, in dem einst zahlreiche Feste und Familientreffen stattgefunden hatten, befand sich nun die Klausur, ein abgegrenzter Bereich für diejenigen Nonnen, die ein streng kontemplatives Leben führten. Als gläubiger Katholik hatte Francis X. Kelly eine Kapelle für seine Familie errichten lassen. Sie war klein und intim, angefüllt mit mehreren Kirchenbankreihen aus Eichenholz und sehr dunkel. Das einzige Licht fiel durch die blaugrundigen Buntglasfenster, die ein Meister seines Fachs aus der französischen Stadt Rouen entworfen hatte. Ein Kreuz krönte den schlichten Kirchturm. Nun wurde die Kapelle für die tägliche Messe und für die Gebete der Nonnen und der Internatsschülerinnen genutzt.
Das Anwesen schmiegte sich in die Talsohle des Connecticut River Valley, genau an der Stelle, wo der mächtige Strom in den Long Island Sound mündete. Die Flussseite wurde von Sumpfland gesäumt, ein Paradies für Wasservögel. Entlang dem Sund verlief ein nahezu unberührter weißer Sandstrand, umspült von sanften Wellen und umtost vom Meereswind.
Überall auf dem Land der Academy wurde Wein angebaut. Ungefähr achttausend Hektar waren der Rebsorte Chardonnay, zweitausend Hektar dem Merlot und mehr als tausend dem Pinot Noir vorbehalten. Die Nonnen unterrichteten und arbeiteten im Weinberg. Im Frühjahr banden sie die Weinreben an Spalieren fest, »erzogen sie«, wie es in der Fachsprache hieß. Es bildeten sich Knospen und winzige Trauben. Der Sommer war der Aufgabe gewidmet, die Weinreben an den Drähten neu zu positionieren, die Rebstöcke zu stutzen und auszulichten, damit sie eine optimale Form erhielten, und für eine ausreichende Bewässerung zu sorgen. Ende September, wenn die Luft vom würzigen Duft der reifen Trauben erfüllt war, rüsteten sich die Nonnen für die Weinlese.
Die sanften Hügel, die zu den Ländereien der Academy gehörten, waren kreuz und quer von malerischen, kunstvollen Steinmauern durchzogen, errichtet von Arbeitern, die von den Kellys Ende des 18 . Jahrhunderts aus Irland herübergeholt worden waren. Zu ihnen gehörte auch Cormac Sullivan, Urgroßvater von Schwester Bernadette Ignatius, seit Jahren Leiterin des Internats.
An diesem Nachmittag Ende September waren die Hügel von Star of the Sea in karamellfarbenes Sonnenlicht getaucht. Es breitete sich über die Heuwiesen und den Weinberg, das Sumpfland und die Nebenarme des Flusses aus, und es verlieh den Steinmauern Glanz. Die Luft war frisch, und ein schneidender Wind wehte vom Sund herüber. Mädchen in Schuluniform, marineblaue Blazer und karierte Röcke, liefen zwischen den Gebäuden hin und her, auf dem Weg zum Unterricht oder Sport.
Schwester Bernadette Ignatius trat aus ihrem Büro in den hellen Sonnenschein. Sie kniff die Augen zusammen und ließ ihren Blick schweifen. Zwei Viertklässlerinnen flitzten an ihr vorbei und winkten. »Hallo!«, riefen sie. Eine ihrer Nichten, Cecilia Sullivan, beeilte sich, sie einzuholen.
Bernie winkte den drei Mädchen zu und ging durch den Innenhof in Richtung Strand. Die Leitung des Anwesens erforderte ihre ungeteilte Aufmerksamkeit; eigentlich hätte der Tag doppelt so viele Stunden haben müssen, nur um auf dem Laufenden zu bleiben. Mit Schülerinnen von der ersten bis zur zwölften Klasse, die ihrer Obhut anvertraut waren, Novizinnen, deren Entwicklung es zu beobachten galt, Junglehrerinnen, die ihrer Anleitung bedurften, Noten, die überprüft werden mussten, langjährigen Mitarbeiterinnen, die Rat suchten, und der vielschichtigen physischen Struktur von Star of the Sea hatte sie alle Hände voll zu tun. Und wenn unvorhergesehene Ereignisse eintraten wie jetzt, brauchte sie unverzüglich eine Antwort.
Wo mochte sie stecken – Honor Sullivan, ihre beste Freundin und Schwägerin, die auch den Kunstzweig der Schule leitete?
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