Eine Frage des Herzens
weiter Ferne, jenseits des Meers. Als sie mit schnellen Schritten ihrem Büro zustrebte, versuchte sie tief in sich hineinzuhorchen, auf ihr Herz zu hören, aber sie konnte nur daran denken, wie leer und ausgebrannt sie sich fühlte.
19
A m Abend, als Cece zu Bett gegangen war und Agnes am Küchentisch saß und ihre Englisch-Hausaufgabe erledigte, kochte Honor Kaffee und brachte ihn zu John ins Atelier hinüber. Er saß über seinem Zeichentisch gebeugt und skizzierte Pläne für sein nächstes Projekt. Sisela, die alte weiße Katze, lag, alle viere von sich gestreckt, auf der Tischplatte, und er arbeitete um sie herum.
Honor blieb auf der Schwelle stehen und betrachtete ihn. Er trug schwarze Jeans und ein blaues Chambray-Arbeitshemd, seine dunklen Haare waren kurz und von grauen Fäden durchzogen, und selbst im gedämpften Licht konnte sie die tiefen Furchen in seinem Gesicht erkennen. Er war gealtert während der Jahre, die er im Gefängnis verbracht hatte.
Das galt auch für sie. Jemanden so lange so schrecklich zu vermissen hinterließ tiefe Wunden im Inneren eines Menschen. Das Herz versteinerte, wurde fast unerträglich schwer. Doch als sie ihn nun betrachtete, unendlich dankbar, ihn wieder zu Hause zu haben, hatte sie das Gefühl, als würden sie beide jünger. Ihre Herzen waren wieder aus ihren Fesseln befreit.
»Kaffee?« Sie trat aus dem Schatten heraus.
»Vielen Dank, gerne.« Er hob den Blick. »Habe ich vorhin das Telefon läuten hören?«
»Ja. Das war Regis. Sie möchte übers Wochenende kommen.«
»Frag sie, ob sie nicht ihre Mitbewohnerinnen und Freundinnen mitbringen will. Sie könnten bei der Weinlese helfen.«
»Gute Idee«, sagte Honor. »Aber findest du es nicht merkwürdig, dass sie schon wieder Heimweh hat? Sie ist doch gerade erst ins College zurückgefahren und war bereits anlässlich Bernies und Toms Rückkehr hier …«
»Ich denke, sie möchte sehen, wie es uns geht.« John streichelte geistesabwesend Sisela. »Möchte sich vergewissern, dass wir noch alle beisammen sind.«
John war Bildhauer und Fotograf, bekannt für Kunstwerke in großem Maßstab. Er arbeitete mit Eisschollen und umgestürzten Bäumen, Canyonwänden und Klippenkanten. Sein letztes Werk war ein Labyrinth, unten am Strand mit den Überresten eines Findlings aus der Eiszeit errichtet, den er eines Nachts in einem Anfall von Erregung und Wut zertrümmert hatte. Die Skulptur davor war eine hochaufragende Kapelle aus Treibholz und Granitschotter mit einem Eisenkreuz gewesen, auf den Klippen von Ballincastle in West Cork, Irland, installiert. Ein Unbekannter hatte sie zu zerstören versucht, als seine Tochter Regis dort stand, und John war zu einer Haftstrafe verurteilt worden, weil er ihn getötet hatte.
Sechs Jahre lang hatte Regis das Geheimnis, das mit jenem verhängnisvollen Tag verbunden war, in sich verschlossen. Sie hatte keiner Menschenseele erzählt, was sich wirklich zugetragen hatte, weil ihr Erinnerungsvermögen versagte. Das Trauma hatte seinen Tribut von der gesamten Familie gefordert, und erst bei der letzten Reise nach Irland, am Ende des Sommers, war Regis in der Lage gewesen, sich dem Gericht und der Wahrheit zu stellen.
Sie hatte die Verlobung mit Peter gelöst und war ans Boston College zurückgekehrt, wo ihr zweites Studienjahr begonnen hatte. Honor wusste, dass die Alpträume, die sich um die Ereignisse in Ballincastle rankten, ihr geholfen hatten, die Vergangenheit zu verarbeiten und sie auf den Weg zu einer neuen Phase des Genesungsprozesses zu geleiten. Doch diese Erfahrung hatte Regis, die wie ihr Vater weder Tod noch Teufel zu fürchten schien, in einen zögerlichen, verunsicherten Menschen verwandelt.
»Machst du dir Sorgen um sie?«, fragte John.
»Nicht wirklich. Sie scheint ganz gut zurechtzukommen. Aber ich denke, du hast recht, was die Gründe für die Heimfahrt betrifft.«
»Um sicherzugehen, dass zu Hause alles in Ordnung ist?«
Honor nickte und trank einen Schluck Kaffee. »Mit uns allen. Weil wir nicht komplett sind.«
»Spielst du auf den fahnenflüchtigen Tom Kelly an?«
»Genau.«
»Vermutlich hatte er schließlich die Nase voll, um meine Schwester herumzuscharwenzeln, in der Hoffnung, dass sie ihr Gelübde bricht.«
»John, aus deinem Mund klingt das so …«
»Absonderlich? Nach einem Hirngespinst?« Er umfasste die Kaffeetasse mit beiden Händen. Die Nächte waren kühl, ein stetiger Wind wehte vom Meer herüber. Die Grillen waren verstummt. Sie wurden
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