Eine Frage des Herzens
Sie wusste, dass John Gott durch seine Arbeit begegnete. Die Liebe zur Schöpfung, der Aufenthalt in der Natur, den Elementen ausgesetzt, meilenweit von anderen Menschen entfernt, das war seine Welt. In gewisser Hinsicht war seine Spiritualität extremer und unbeugsamer als die seiner Schwester, der Nonne.
»Wir stammen aus einer Familie von Nullachtfünfzehn-Katholiken. Wer stellt sich nicht irgendwann einmal vor, Nonne oder Priester zu werden? In unserer Kindheit war das ein Spiel, das sich großer Beliebtheit erfreute.«
»Bei uns auch. Die Oblaten bei der Kommunion bestanden aus Wonderbread, diesem weichen Weißbrot«, sagte Honor, die sich daran erinnerte, wie sie mit ihren Freundinnen das Gleiche gespielt hatte.
John nickte. »Bernie hat nie mitgemacht. Sie schüttelte nur den Kopf, sie wollte die Sakramente nicht verunglimpfen. Und dabei trat dieser sonderbare Glanz in ihre Augen …«
Honor wusste, was er meinte. Diese klaren durchdringenden Augen, die aussahen, als nähme Bernie mehr wahr als alle anderen. Selbst in Zeiten großer Belastung, als John im Gefängnis war, hatte sie Ruhe und inneren Frieden ausgestrahlt. Honor hatte in diesen Jahren viel Zeit mit ihr verbracht, weil sie ihr das Gefühl vermittelte, dass am Ende doch noch alles gut würde.
»Als sie anfing, mehr für Tom zu empfinden als Freundschaft, war ich überglücklich. Ich dachte, die zwei sind wie geschaffen füreinander. Die werden miteinander alt werden. Ich war fest überzeugt, er würde mein Schwager werden.«
»Das dachte ich auch.« Das Ganze war ihr ein Rätsel. Für sie, deren größter Traum immer darin bestanden hatte, John zu heiraten, Kinder zu haben und zu malen, war Bernies Entscheidung, ins Kloster einzutreten, zunächst ein Schock gewesen.
»Ich bin mir nicht sicher, ob sie in diesem Punkt sich selbst gegenüber ganz aufrichtig war«, sagte John. »Sie ist ins Kloster eingetreten, hat sich aber nie wirklich von Tom gelöst. Und er nicht von ihr.«
»Jetzt hat er die Nabelschnur durchtrennt«, erwiderte Honor betrübt und blickte zu den hohen Fenstern hinüber.
John nahm sie in die Arme und zog sie an sich. Sie küssten sich in dem großen dunklen Atelier, hielten sich umschlungen und spürten, wie nahe sie daran gewesen waren, einander zu verlieren. Liebe war ein tiefes, mächtiges Gefühl, das Paare zu dem Glauben verleiten konnte, sie währe ewig. Doch das Leben hielt zahlreiche Überraschungen bereit, von denen jede einzelne den Menschen aus der Bahn werfen konnte. Die Zukunft wurde weniger vom Lauf der Ereignisse bestimmt als vielmehr von der Reaktion darauf.
John schaltete das Licht aus und schloss Honor abermals in die Arme. Sein Kuss war feurig, und der Wind, der an den Fenstern der Nordwand rüttelte, war kühl. Sich an den Händen haltend, durchquerten sie gemeinsam die Dunkelheit des Ateliers, tasteten sich den Korridor entlang und betraten ihr Schlafzimmer.
Als die Tür ins Schloss fiel, waren sie alleine. Honor wusste, dass sie nie jemand anderen oder etwas anderes mehr begehrt hatte. Ihr Mann entkleidete sie auf dem Bett, das sie vor ihrer Hochzeit gekauft hatten. Ihr Körper brannte vor Verlangen, seine Hand liebkoste sie. Sie kannte seine Berührung in und auswendig, und doch war sie jedes Mal neu und überraschend.
Die Tatsache, dass sie einander beinahe verloren hätten, machte jede Sekunde umso kostbarer. Sie erinnerte sich jeden Tag daran. Doch nun schwanden Zeit und Raum, ihre Gedanken drifteten davon. Wenn sie sich liebten, waren John und sie eins. Sie hätten nicht zu sagen gewusst, wo die Haut des einen endete und die des anderen begann – so war es immer gewesen und würde es immer sein, wenn sie unter den Decken ihres vertrauten Betts miteinander verschmolzen.
Kathleen Murphy konnte nicht einschlafen. Im Sommer war das Dachgeschoss von Oakhurst heiß und stickig, doch nun drang herbstliche Kühle durch Dach und Wände, die nicht isoliert waren, und durch die Fenster, die dringend einer Abdichtung bedurften. Ein heftiger Wind rüttelte an den Scheiben, so dass sie erschrak und im Bett hochfuhr.
Sie war alleine im obersten Stock. Mit Ausnahme von Beth, die ebenfalls zum Personal gehörte, hatten alle Newport verlassen, und Beth wohnte nicht im Haus, sondern mit ihrem Freund zusammen in einem Apartment in der Spring Street. Miss Langley, die Kinderfrau, war mit Wendy und ihrer Familie nach Manhattan zurückgekehrt, rechtzeitig zum Schulbeginn, und Samantha mit Kindermädchen June
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