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Eine Frage des Herzens

Eine Frage des Herzens

Titel: Eine Frage des Herzens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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abgelöst von den Enten, die mit leisen kehligen Rufen über ihren Köpfen dahinflogen; die Herbstwanderung der Zugvögel hatte begonnen. »Denk doch mal nach. Meine Schwester hat das ewige Gelübde abgelegt, aber Tom lebt genauso zölibatär. Da könnte er ja gleich Priester werden.«
    »Wo steckt er überhaupt?«
    »Kann ich dir nicht genau sagen.« Nicht nur der Ton, sondern auch die Tatsache, dass er ihren Blick mied, weckte in ihr den Verdacht, dass er ihr auswich.
    »Komm schon, ich weiß, dass du mit ihm in Verbindung stehst.«
    »Möglich.«
    »Mir kannst du es doch erzählen.«
    »Ich weiß es nicht, Ehrenwort.« Er zog sie lächelnd an sich. »Er hat mir keine Einzelheiten verraten. Ich weiß nur, dass es irgendwie mit Seamus zu tun hat.«
    »Seamus, seinem Sohn? Aber der ist doch in Irland. Bernie hat mir erzählt, dass er jeden weiteren Kontakt mit ihnen ablehnt.«
    »Hat er gesagt. Doch seit wann kann ein solcher Tiefschlag wie das Gelübde einer Nonne oder die Forderung eines jungen Mannes, in Ruhe gelassen zu werden, Tom davon abhalten zu hoffen?«
    »Er ist aber nicht nach Dublin zurückgeflogen, oder?«
    John schüttelte den Kopf. »Nein, so viel steht fest. Er hat gesagt, er wolle Seamus ›den Weg ebnen‹, so in der Art. Keine Ahnung, was genau er damit meinte.«
    »Ich schon. Seamus kommt her«, erwiderte Honor strahlend. »Ich würde mich unbändig freuen, ihn kennenzulernen. Kannst du dir vorstellen, wie Bernie reagieren wird, wenn das stimmt?«
    »Ich fürchte, ja.«
    »Was soll das heißen?«
    John wandte seinen Blick dem Zeichentisch zu, der Strichzeichnung von einem mächtigen Findling in einem Gebilde, das einem Kreis aus Weihnachtsbäumen glich. Sisela streckte sich, sprang auf den Boden und sauste davon. John trank einen großen Schluck Kaffee und sah Honor in die Augen. Ihn wieder zu Hause zu haben war ein Glück, das sie manchmal kaum zu fassen vermochte.
    »Meine Schwester erweckt den Anschein, als wäre sie ungeheuer stark«, sagte er, »unerbittlich in ihrem Denken und Handeln. Sie besitzt einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit und kämpft für eine gute Sache, für Gott. Das ist der Grund, weshalb sie jeden Morgen aufsteht, das Kommando übernimmt, als wäre die Academy ein Schlachtschiff, und nichts an sich herankommen lässt. Doch
diese
Sache, die geht ihr an die Nieren.«
    »Ich weiß.«
    »Nicht nur die Begegnung mit Seamus. Ich weiß, sie hatte seit jeher dieses Ziel vor Augen und sucht noch immer nach einer Möglichkeit, eine Beziehung zu ihm aufzubauen. Mit Sicherheit zerbricht sie sich zwischen den Gebeten und dem Bemühen, beharrlich ihren Weg zu gehen, darüber den Kopf. Aber die Geschichte mit Tom steht auf einem anderen Blatt.«
    »Das war schon immer so, was Bernie betrifft.«
    »Leider. Weil sie unter dem Strich nicht ganz aufrichtig war.«
    »Wie kannst so etwas behaupten?« Honor wich zurück, trat einen Schritt beiseite.
    Das Atelier war geräumig und dunkel, bis auf den Lichtkreis über Johns Zeichentisch. Hohe Fenster an der Nordwand spiegelten den Lampenschein wider, und draußen wehte der Wind und ließ die Blätter in den Baumkronen rascheln.
    »Bernie kann gewisse Dinge nicht einmal sich selbst eingestehen«, erwiderte John.
    »Sie ist sich ihrer selbst durchaus bewusst und vollkommen aufrichtig«, entgegnete Honor, loyal gegenüber ihrer besten Freundin.
    John schüttelte den Kopf und nahm den Bleistift, um einige Bereiche der Skizze zu schattieren, wobei er die Stirn runzelte, als kämen ihm Gedanken, über die er nicht sprechen wollte.
    »Was ist, John?«
    »Ich bin mir nicht sicher.«
    »Bernie ist deine Schwester, und du liebst sie. Genau wie ich …«
    »Ich weiß.« Er sah auf, und ihre Blicke trafen sich. Sie erkannte in seinen Gesichtszügen noch immer den jungen Mann wieder, in den sie sich vor Jahren verliebt hatte, hier im Star of the Sea. Sie waren füreinander bestimmt, genau wie Bernie und Tom. Es hatte Honor tief berührt, wie nahe sich John und seine ältere Schwester standen. »Sie war ein ganz gewöhnliches Mädchen«, sagte er. »Das heißt, für mich war sie natürlich etwas Besonderes, ich blickte zu ihr auf. Sie war die beste Schwester, die man sich nur vorstellen kann. Aber nach außen hin wirkte sie … wie alle anderen eben. Normal, würde ich sagen. Zugegeben, sie betete häufiger als ich und ging regelmäßig zur Messe. Doch meine Kunst war mein Gottesdienst, und deshalb war es keine große Anstrengung …«
    Honor nickte.

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