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Eine Frage des Herzens

Eine Frage des Herzens

Titel: Eine Frage des Herzens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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Zugluft zu ihr drang. Sie dachte an ihre Kindheit zurück, an das kleine mutterlose Mädchen, das von einer liebevollen, fürsorglichen Mutter geträumt hatte. Sie hatte sich ausgemalt, wie sie ihr die Haare bürstete, ihr leise vom Leben und von ihren Träumen erzählte, die sie abends zu Bett brachte und ihr etwas vorlas. Ihre Mutter hatte das nicht getan, auch nachdem sie Kathleen zu sich geholt hatte.
    Hatte Mrs. Wells ihrer Tochter diese Zuwendung gegeben? Und wenn ja, wie hatte sie aufhören können, sie zu lieben? Oder war ihre Vorstellung von einer guten Mutter nichts weiter als das Produkt ihrer Phantasie? Sie musste es wissen, und zwar bald.
    Andy seufzte, dann eilte er die Hintertreppe hinunter zur Küche. Kathleen hörte selbst hier oben Flaschen und Eiswürfel klirren. Zitternd auf der obersten Treppenstufe sitzend, schlang sie die Arme um ihren Körper. Sie schloss die Augen, schickte Andy gute Gedanken und hoffte, dass er sie wahrnehmen konnte.
    So hatten James und sie es gehalten. Nicht im Babyalter, als ihre Betten nebeneinanderstanden und sie die Arme durch die Gitterstäbe strecken konnten, bis sich ihre Hände berührten. Nein, später, als er im Jungen- und sie im Mädchenflügel untergebracht wurden. Anfangs war die Trennung grauenvoll gewesen, ein Gefühl, als hätte man ihr die Arme abgehackt.
    Doch im Lauf der Zeit hatten sie eine Lösung gefunden. Sie hatten am Fenster ihres jeweiligen Flügels gestanden und sich über den Innenhof hinweg zugewunken. Kathleen hätte die ganze Nacht dort verharrt, wenn Schwester Anastasia sie nicht sanft weggeführt, ins Bett gebracht und zugedeckt hätte.
    »Ich weiß, dass du James liebhast«, hatte sie gesagt und ihr über das Haar gestrichen.
    »Ja. Ich vermisse ihn, so sehr, dass es weh tut …«
    »Warum denn? Er ist ja immer bei dir.«
    »Aber er ist drüben, und ich bin hier!«
    »Trotzdem seid ihr zusammen, auf ganz besondere Weise.«
    Kathleen hatte geschluckt und sich gewünscht, ihr glauben zu können. Schwester Anastasia würde sie nie belügen. Sie musterte die Nonne, nach Anzeichen Ausschau haltend, dass sie ihr etwas vormachte. Doch das Gesicht von Schwester Anastasia spiegelte so viel Klarheit und Güte wider, dass sie sich unmöglich vorstellen konnte, dass etwas anderes als die reine Wahrheit über ihre Lippen kam.
    »Und wie soll das gehen?«, hatte Kathleen gefragt.
    »Schließ die Augen und denk ganz fest an ihn«, hatte Schwester Anastasia gesagt. »Stell dir seine Augen vor, seine Sommersprossen, seine karottenroten Haare. Siehst du ihn vor dir?«
    »Ja.« Kathleen hatte die Augen zusammengekniffen. Das Bild von James war ungemein lebendig. Er streckte lächelnd die Hand nach ihr aus, und sie hatte das Gefühl, sie ergreifen zu können.
    »Gut«, hatte Schwester Anastasia gesagt. »Beim Einschlafen nimmst du James in deine Träume mit. Ich wünsche dir, dass ihr wunderbare Abenteuer erlebt, Kathleen – am Strand entlanglaufen, im Meer schwimmen gehen, den Croagh Patrick besteigen.«
    »Das machen wir«, hatte Kathleen versprochen. Im vergangenen Jahr hatten die Gönner von St. Augustine’s den Kindern einen Ausflug zum Croagh Patrick ermöglicht, dem heiligen Berg Irlands. Sie wusste, wie es dort oben auf dem Gipfel war, wenn man bis in die Wolken über der Clew Bay aufstieg, und heute Nacht, in ihren Träumen, konnte sie ihn abermals mit James erklimmen …
    »Gib acht, dass du ihn nicht verlierst«, hatte Schwester Anastasia gesagt, sich hinuntergebeugt und Kathleen auf die Stirn geküsst. »Du kannst ihn immer bei dir haben, in deinem Herzen … Wenn du seine Hand loslässt, schließt du einfach die Augen und denkst an ihn. Du kannst ihn jederzeit zurückholen.«
    Als Kathleen nun auf der obersten Treppenstufe saß, mit geschlossenen Augen, fragte sie sich, ob Schwester Anastasia James das Gleiche gesagt hatte. Ob sie ihm verraten hatte, wie er an Kathleen festhalten, sie niemals verlieren könne.
    Wenn nur ihre Eltern an jenem Sommertag nicht gekommen wären, dachte sie. Wenn James und sie nur zusammengeblieben wären … Dann wäre alles anders gekommen.
    Sie war so abgelenkt, dass sie kaum die Schritte vernahm. Pierce kam die Treppe herauf, das Gesicht im Schatten. Kathleens Herz klopfte, jedoch nicht vor Begehren.
    »Wartest du auf mich?«, fragte er mit leiser, bedrohlicher Stimme.
    Sie antwortete nicht. Ihr fehlten die Worte. In der eisigen Luft zitternd, die Ende September herrschte, stand sie auf und ging ihm in

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