Eine Frage des Herzens
einmal im Traum eingefallen wären. Das waren keine Märchen.
Kathleens Märchen rankten sich immer um James, der sie irgendwie finden würde, der nie aufgehört hatte, sie zu suchen, ungeachtet dessen, wie lange er brauchte … Doch ihr Durchhaltevermögen ließ allmählich nach. Ihr Herz versteinerte jedes Mal ein bisschen mehr. Die kalten Nächte in der Mansarde, in denen sie Pierce’ Besuche herbeisehnte, wie lieblos sie auch waren, zermürbten sie. Sie verachtete sich wegen ihres Verlangens – nicht nach ihm, sondern nach menschlicher Nähe, nach den Armen um ihre Schultern. Selbst wenn James sie jetzt ausfindig machen würde, war es vielleicht zu spät.
Vielleicht war sie bereits verloren …
Als sie unten Stimmen hörte, schlich sie zur Treppe, um zu lauschen. Es war der nette Andy, der seiner Mutter eine gute Nacht wünschte.
»Darling, wenn du nur nicht so viel trinken würdest«, sagte Mrs. Wells. »Ich verlange ja nicht, dass du keinen Tropfen mehr anrührst, auch wenn Dr. Malahyde das für eine gute Idee zu halten scheint.«
»Mutter, ich werde mir irgendwann einmal eine neue Leber beschaffen; heute kann man ja alles transplantieren.«
»Das ist nicht komisch, Andrew. Nimm dir ein Beispiel an deinem Bruder. Bei Partys trinkt er nur einen Cocktail, den ersten und zugleich letzten. Das solltest du dir auch angewöhnen.«
»Er ist nicht so empfindsam wie ich«, erwiderte Andrew düster.
»Empfindsam? Was hat Empfindsamkeit damit zu tun?«, fragte seine Mutter, die ihre Ungeduld nicht länger zu zügeln vermochte. »Ich hasse diese Gefühlsduselei, wie du weißt. Die Welt ist nun mal kalt und grausam. Aber sich im eigenen Elend zu suhlen ist dein Untergang. Blase ich vielleicht ständig Trübsal, weil mir die Situation mit deinem Vater missfällt? Nein.«
»Verletzt es dich nicht, dass er jedes Wochenende mit ihr verbringt?«
»Ich denke nicht darüber nach, Andrew. Und du solltest es genauso halten. Männer sind eben so. Du würdest dich wahrscheinlich besser fühlen, wenn du …«
»Ich bin nicht so. Und ich möchte auch nicht so sein. So wie Dad und Pierce, im Umgang mit Frauen …«
»Nein. Du betrinkst dich lieber jeden Abend und schaust dir die x-te Wiederholung irgendwelcher Serien wie
Law & Order
an, während das wirkliche Leben ohne dich stattfindet. Andere junge Leute in deinem Alter tragen Abendkleid und Smoking, gehen aus und amüsieren sich, während du in Trainingshosen auf der Couch herumliegst.«
Kathleen, die oben stand und lauschte, konnte sich lebhaft vorstellen, wie sich Mrs. Wells bei diesen Worten krümmte. In ihrer Welt sollte alles schön, elegant, ohne Chaos, Getue oder Ecken und Kanten sein. Frauen hatten ihre Rolle als Ehefrauen zu erfüllen oder sich dezent im Hintergrund zu halten. Feste dauerten die ganze Nacht; sie fanden in weißen Zelten statt, zu denen mit Fackeln beleuchtete Wege führten, oder unter funkelnden Kristalllüstern in Ballsälen, die im Stil der Belle Époque gehalten waren, oder auf weitläufigen geschwungenen Steinterrassen mit Blick auf das schimmernde Meer. Die Menschen, die ihre Welt bevölkerten, hatten Rang und Namen – Prinzessin, Gräfin und dergleichen.
Und das Gesinde war im Dachgeschoss untergebracht, ohne Heizung, darauf wartend, dass sich der Liebhaber über die Hintertreppe nach oben schlich, sich bediente und auf leisen Sohlen davonmachte. Kathleen kauerte sich auf den Boden, umklammerte das Treppengeländer und sehnte sich nach einem Leben, das es nicht gab.
»Das hast du dir alles selbst zuzuschreiben«, fuhr Mrs. Wells schneidend fort. Ihre Stimme wurde leiser, als sie den Korridor entlang zu ihrem Zimmer ging. »Du hast Patricia gehen lassen. Du hattest sie nicht im Griff, und jetzt ist sie weg.«
»Wir haben uns nie geliebt.« Andrews Stimme schwankte. »Das wusstest du, Mutter. Du hast mich dazu gedrängt, sie zu heiraten, weil es sich gut in den Klatschspalten machte. Als Ausgleich für Louise.«
»Das ist eine niederträchtige Unterstellung, Andrew.«
»Hast du sie jemals vermisst, Mutter?«
»Wie kannst du es wagen, mich so etwas zu fragen! Sie ist für mich gestorben – für die ganze Familie. Ich möchte nie wieder ihren Namen hören. Du bist betrunken, und du weißt, ich lege keinen Wert auf ein Gespräch mit dir, wenn du dich in diesem Zustand befindest.« Damit eilte Mrs. Wells in ihr Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu.
Kathleen schloss die Augen. Sie spürte Andys Schmerz, der wie kalte
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