Eine Frage des Herzens
wandte sie sich ihm zu und sah ihn fassungslos an. Sie war es nicht gewohnt, dass man ihr offen widersprach. Tom hatte sich lange an ihre Regeln gehalten, doch nun drängte die Zeit.
»Doch, bitte. Es gibt da etwas, was du nicht weißt, was ich dir noch nicht erzählt habe …«
»Genau wie bei mir, Bernie. Ich habe dir noch nicht erzählt, was das Ganze soll. Aber damit du es weißt, es gibt kein Zurück. Ende der Diskussion.« Er wollte ihre Begründung nicht hören, ihre Argumente, ihre philosophische Beweisführung, warum sie ihren Sohn nicht am Flughafen abholen sollten.
»Also, warum? Was hast du mir noch nicht erzählt?«
»Ich habe Kathleen gefunden.«
Bernie schnappte nach Luft. Sie blickte ihn mit großen, ungläubigen Augen an.
»Wo denn? Geht es ihr gut?«
»Sie lebt in Newport. Und ich habe keine Ahnung, ob es ihr gutgeht oder nicht. Ich habe sie nur eine Minute lang am Fenster gesehen.« Er sah sie wieder vor sich. So flüchtig das Bild auch gewesen war, er hatte den Eindruck gewonnen, dass sie verzweifelt oder am Ende ihrer Kräfte war. Und er hatte Erfahrung mit diesem Zustand. Beim Anblick von Kathleen hatte er sich nach Dublin zurückversetzt gefühlt, als Bernie den schwersten Kampf ihres Lebens austrug, mit ihren eigenen Dämonen rang.
»Tom, du hast sie wirklich gefunden?« Ein Anflug von Freude schwang in ihrer Stimme mit.
»Ja«, antwortete er stolz. »Ich habe es für Seamus getan. Und ich wollte, dass du bei mir bist. Damit wir es ihm gemeinsam sagen können.«
»Vielleicht ist das unser Geschenk an ihn«, flüsterte Bernie.
Tom nickte. Er verspürte ein Gefühl der Enge in der Brust. Er verkniff sich die Worte, die ihm auf der Zunge lagen, dass es im Grunde sein Geschenk für Bernie war. Mit dem sie ihrem Sohn zeigen würden, wie sehr sie ihn liebten. Sie hatten einen Großteil seines Lebens verpasst, doch nun konnten sie für ihn da sein, ihm vor allem bei diesem Unterfangen helfen. Tom hatte Seamus an den Augen abgelesen, dass die Liebe zu Kathleen für ihn das Wichtigste auf der Welt war. Sie bestimmte sein Leben, nahm ihn gefangen, gab ihm jeden Morgen einen Grund, aufzustehen.
Tom kannte das Gefühl. Bernie an seiner Seite zu wissen war alles, was er sich jemals auf dieser Welt gewünscht hatte. Ihre Gegenwart, der Klang ihres Atems, der Gesichtsausdruck, der sich stetig wandelte. Sie kannten sich nicht von Geburt an, aber seit frühester Kindheit. Tom hatte sich in sie verliebt, als er ihr das erste Mal begegnete. Er sah sie wieder vor sich in ihrem gelben Kleid, beim Picknick auf Star of the Sea, und wie sie Fangen gespielt hatten und über Stock und Stein gesprungen waren.
»Tom, ich kann es kaum erwarten, ihn wiederzusehen«, gestand Bernie.
»Ich weiß. Mit geht es genauso.«
»Fahren wir ihn gleich zu Kathleen?«
»Das müssen wir.« Tom dachte an Regis und hoffte, dass sie in der Lage war, den ihr zugedachten Teil der Aufgabe zu erledigen. »Sie reist heute Abend ab.«
Oakhurst war in jeder Hinsicht bombastisch und auf den äußeren Schein bedacht. Das Gleiche galt auch für die Bewohner, sogar in noch höherem Maß. Als Mirande am Samstagnachmittag mit Regis an der Eingangstür stand, beide in Beth’ Reserve-Dienstkleidung – leichtes schwarzes Wollkleid mit gestärkter weißer Schürze –, hätte man aus Mrs. Wells’ Reaktion schließen können, Bewohner eines fremden Planeten wären auf der Erde gelandet.
»Madam«, sagte Beth, die in den Plan eingeweiht war, »darf ich Ihnen meine Schwester Mirande und ihre Kollegin Regis vorstellen?«
Mrs. Wells, die gerade auf dem Weg in den ersten Stock die Eingangshalle durchquerte, starrte sie entgeistert an. Ihre blonden Haare waren wie immer perfekt frisiert. Sie trug einen marineblauen Hosenanzug mit großen Messingknöpfen, Slipper aus Goldbrokat und jede Menge Diamanten an Fingern und Handgelenken. »Und, was wollen die beiden?«, fragte sie.
»Beim Packen helfen«, meldete sich Regis zu Wort. In Anbetracht des Gesprächsverlaufs war sie froh, dass Monica und Juliana im Wagen warteten – und dafür sorgten, dass das Fluchtauto auf Anhieb einsatzbereit war.
»Aber …« Mrs. Wells hätte gewiss die Stirn gerunzelt, wäre diese nicht chirurgisch lahmgelegt worden. »Ich erinnere mich nicht, weiteres Personal angefordert …«
Beth hatte Mirande erzählt, dass die Familie oft Aushilfen beschäftigte, zusätzliche Dienstmädchen, Butler, Bedienungen, die den Gästen bei Tisch aufwarteten,
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