Eine Frage des Herzens
Deshalb hast du sie gestern Abend nicht zu Gesicht bekommen. Schwester Theodore ist Eleanors
Consigliere,
genauso gewieft wie die Rechtsberater der Ehrenwerten Gesellschaft. Sie wird dir ein Angebot machen, das du nicht ablehnen kannst.«
»Das hat sie schon«, erwiderte Bernie ruhig.
»Nun, ich bin sicher, dass Eleanor dich heute sehen will.«
Bernie nickte und stand reglos da, trotz des Schauers, der ihr über den Rücken lief. »Ich auch«, pflichtete sie ihr bei.
Sie gingen in die Kapelle und schlossen sich den Schwestern im stillen Gebet an. Bernie kniete im Chorgestühl nieder, das ihr gestern Abend zugewiesen worden war. Sie beugte den Kopf, stellte sich seinen Stern vor und sprach stumm das Gebet, das sie zu Hause gesprochen hätte. Gleich darauf, als alle versammelt waren, stimmten sie die Psalmodie, den Wechselgesang zwischen Chor und Vorsängerin, an. Bernie hatte das Gefühl, ihren Platz in der Gemeinschaft nie verloren zu haben – sie befanden sich auf der gleichen Wellenlänge wie im Star of the Sea.
Die irischen Stimmen klangen so wunderbar und melodiös, dass ihr leicht ums Herz wurde, und sie konnte eine Aufmunterung brauchen. Sie war aus einem Grund nach Irland gekommen, der abwegig schien. Jeder, der einigermaßen bei Verstand war, würde versuchen, sie von ihrem Vorhaben abzubringen. Sie glaubte an den Heiligen Geist, an die Sakramente, an die göttliche Bestimmung, die den Menschen auf dem Weg durchs Leben zu seinen eigenen Problemlösungen und Wohltaten führte. Viele Jahre lang hatte sie ihn der Gnade Gottes anvertraut – des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Und Maria, der sie sich besonders verbunden fühlte.
All die Jahre hatte sie darauf vertraut, dass Gottes Liebe ihn beschützen würde. Doch wenn ihr Glaube so unerschütterlich war, warum war sie dann hier? Warum hatte sie den Drang verspürt, herzukommen, ausgerechnet jetzt, da er erwachsen war, sein eigenes Leben führte? Welchen Grund könnte es dafür geben?
Der Sommer war reich an Ereignissen gewesen, die sich als Geschenk des Himmels erwiesen. Ihr Bruder John war zu seiner Familie nach Connecticut zurückgekehrt, ihre Schwägerin Honor hatte ihr Herz geöffnet, hatte ihm verziehen, ihn verstanden und wieder aufgenommen. Ihre Nichten – kapriziös, problembeladen, kämpferisch und Engel, alle drei – hatten auf unterschiedlichen Wegen Heilung von traumatischen Erfahrungen gefunden. Und Brendan McCarthy – der rothaarige Krankenpfleger, der ihre Nichte Agnes betreut hatte – war zu einer Kammer in Bernies Herzen vorgedrungen, die lange im Dunkeln verborgen war.
Schwere, dröhnende Geräusche ließen die Halle erzittern. Ba-bum, ba-bum. Schwester Theodores Schritte waren unverkennbar, und ihre Stimme, die beim Näherkommen den Psalm rezitierte, klang ohrenbetäubend; beides hatte eine Wirkung, die zwischen dem Jüngsten Gericht und Hannibals Alpenüberquerung mit den Elefanten rangierte. Und wo Schwester Theodore war, konnte Schwester Eleanor Marie nicht weit sein.
Schwester Theodore erschien auf der Türschwelle der Kapelle. Üppige Fettpolster quollen aus dem weißen Kopftuch, das ihr Gesicht einhüllte. Ihr Atem ging schwer, aber sie hatte sich die kraftvolle Stimme einer Opernsängerin bewahrt. Sie harmonisierte perfekt mit den leisen, sanften Tönen ihrer Mitschwestern, die dadurch gleichsam auf die Ebene der Engel und der Kunst erhoben wurden. Ihre Augen waren ausdruckslos, als würde die Schönheit in ihrer Seele nur für einen Bereich ausreichen – ihre Stimme.
Ein Schatten fiel über die Tür, als Schwester Theodore beiseitetrat, um der Mutter Oberin von Notre Dame des Victoires den Vortritt einzuräumen.
Beim Betreten der Kapelle sah die Äbtissin nach links und rechts, einen Anflug von Spott in den durchdringenden Augen, als hätte sie den Nonnen bis auf den Grund ihrer Seele geblickt und festgestellt, dass dort vieles im Argen lag. Sie war annähernd eins siebzig groß, hager und strotzte vor Bewegungsdrang. Sie sang nicht mit. Ihr Mund war ein schmaler Strich. Ihre Augen schweiften über das Chorgestühl und fanden ihr Ziel. Die Blicke von Schwester Eleanor Marie und Schwester Bernadette Ignatius trafen sich, zum ersten Mal seit dreiundzwanzig Jahren.
Eleanor kam schnurstracks auf sie zu und reichte ihr einen Zettel. Bernie nickte und fuhr mit der Rezitation fort. Sie sah das Papier erst an, als Eleanor durch die Hintertür der Kapelle verschwand. Niemand wusste besser als sie, wie
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