Eine Frage des Herzens
ein Kreuz an der Wand. Sie schob den Stuhl ans Fenster, saß im Dunkeln und blickte auf Dublin hinaus.
Die Stadt war lebendig und vibrierend, aber auf andere Weise als Star of the Sea. Zu Hause gingen um diese Zeit Füchse, Eulen, Waschbären, Rotwild und gelegentlich Kojoten auf die Jagd. Nachts war die Bucht still, doch unter der Oberfläche tummelten sich Blaufische, Streifenfische, Flundern, Krebse und selten einmal ein Hai. Sterne zogen am Firmament ihre Bahn, und der Mond breitete sein goldenes Licht über das Meer, den Strand und den mehrere Hektar umfassenden Weinberg. Wenn sie nachts aus einem Traum oder vom Schrei einer Eule erwachte, pflegte sie aus dem Fenster zu blicken und einen bestimmten Stern zu suchen, seinen Stern. Und dann sprach sie ein Gebet für ihn.
Hier spürte sie ihn überall. Sie konnte seinen Stern nicht ausmachen, weil die Lichter der Großstadt den Nachthimmel verschleierten. Und sie konnte nicht für ihn beten, weil es ihr unangemessen erschien. Ein Gebet, des Nachts in einen Abgrund gesprochen – wozu auch, nach all den Jahren? Zu Hause hatte er in ihrer Vorstellung einen festen Platz. Er war eine ferne Erinnerung, eine glühende Hoffnung, ein Stern in der Wiege des Firmaments.
Hier war er in dem Blut, das durch ihre Adern strömte. Er war in jedem Atemzug. Jede Stimme, die sie auf der Straße hörte, war seine. Er war der Mann, der die Frau angebrüllt hatte, und die Frau, die in ihrer Not weinte.
Bernie saß auf dem Stuhl mit der geraden Lehne und starrte auf die dunkle Straße hinaus, innerlich zitternd. Ihr Körper schmerzte, ihre Haut brannte. Plötzlich kam es ihr vor, als hätte sie all die Jahre ein oberflächliches Leben geführt. Die Leitung des Konvents und der Schule erforderte ihre ganze Energie und Kraft, sie hatte immer zu viel zu tun und zu erledigen gehabt, um lange nachzudenken. Ihre Haut hatte sich in einen Panzer verwandelt, der die Gefahr ausschloss und sie einschloss.
Die Glocke läutete zur Vigil – ein schneller elektrischer Klingelton. Zu Hause bediente Schwester Gabrielle von Hand eine alte Messingglocke. Glockengeläut mittels Knopfdruck – das war eine Annehmlichkeit des Stadtlebens. Bernie blickte auf ihre Uhr – drei Uhr fünfzehn. Sie kleidete sich im Dunkeln an, darin geübt – Unterwäsche, Strümpfe, Habit, Schleier.
Zu Hause lag ihre Zelle im hinteren Teil des Klosters – auf dem weitläufigen Landsitz, den Toms Urgroßvater errichten ließ –, und sie brauchte zehn Minuten, um in die Kapelle zu gelangen. Hier musste sie nur auf den Gang hinaustreten und eine Treppe hinuntergehen. Ihr blieb noch genug Zeit, um am Fenster zu stehen und auf die Straße hinabzuschauen.
Jeder einzelne Passant konnte …
Sie entdeckte ein Pärchen, das des Weges kam; sie sahen aus, als hätten sie beide das richtige Alter. Sie lachten, und die junge Frau stolperte. Im Schein der Straßenlaterne sah Bernie, wie er sie in seinen Armen auffing. Er küsste sie, bis sie ihr Gleichgewicht wiedergefunden hatte, dann gingen sie weiter. Bernie schaute ihnen nach, bis sie aus dem Lichtkreis verschwanden und um die Ecke der Seitenstraße bogen.
Es klopfte leise an der Tür. Sie öffnete, sah Schwester Anne-Marie auf dem Gang stehen und bedeutete ihr, einzutreten.
»Guten Morgen, Schwester«, sagte Bernie.
»Dir auch einen guten Morgen. Hast du gut geschlafen?«
»Ich bin nicht an das Stadtleben gewöhnt.«
»O weh. Wir befinden uns an einer der Hauptverkehrsstraßen zwischen Temple Bar und Parnell College.«
»Temple Bar?«
»Der Stadtteil am Fluss, immer noch allabendlicher Treffpunkt der jungen Leute«, sagte Anne-Marie. »Überall Bars und Clubs. Erinnerst du dich, auch wenn es Ewigkeiten her ist? Ich hoffe, sie haben dich nicht die ganze Nacht wach gehalten.« Sie sah ihre Freundin lange und aufmerksam an, als wüsste sie, dass der Lärm nicht die Hauptursache ihrer Schlaflosigkeit war.
»Ich werde mich daran gewöhnen.« Bernie drückte rasch ihre Hand.
»Ich konnte nicht umhin zu bemerken, dass Schwester Eleanor gestern weder zum Abendessen noch zur Komplet aufgetaucht ist«, sagte Anne-Marie. »Hat sie dich aufgesucht?«
Bernie schüttelte den Kopf. »Als ich Schwester Theodore beim Abendessen entdeckte, war ich sicher, Eleanor würde ebenfalls erscheinen. Gibt es die Notre-Dame-Mafia noch?«
Anne-Marie kicherte. »Und wie! Schwester Eleanor ist mit der Leitung des Konvents offenbar so ausgelastet, dass ihr die Zeit für den Chordienst fehlt.
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