Eine Frage des Herzens
schwer die reibungslose Führung eines Konvents war, aber sie hatte stets Wert darauf gelegt, keinen einzigen Chordienst zu verpassen.
Der Gedanke wirkte beruhigend und zentrierend, erinnerte sie an ihre Bindung an die Erde und ihre Sehnsucht nach dem Paradies. Die Psalmen waren von Freude und Kummer, Leidenschaft und Verlangen erfüllt, von tief empfundenem Bedauern über die erforschten und unerforschten Wege des Menschen. Es waren Lieder, die von Liebe und Verzweiflung kündeten, die um himmlischen Beistand baten. Bernie hatte immer gewusst, dass sie dieses Beistands bedurfte.
Wahrscheinlich in noch größerem Maß als die meisten Leute.
In gewisser Hinsicht tat ihr Eleanor leid, die sich diese Zeit versagte, die Gelegenheit, sich den Kummer von der Seele und das Herz aus dem Leib zu singen. Doch Eleanor hatte auch nicht solche Fehler wie Bernie begangen.
Sie faltete den Zettel auseinander und las: »Ich erwarte Dich nach dem Frühstück in meinem Büro.«
Bernie starrte die Worte an. Sie hätten von einer gestrengen Schulmeisterin stammen können, an eine Schutzbefohlene gerichtet, deren Benehmen zu wünschen übrig ließ. Das schien sie in Eleanors Augen noch immer zu sein. Und nun war sie zu ihr zitiert worden. Aber war sie nicht genau deshalb hier? Sie legte den Zettel in ihr Gebetbuch und sang weiter.
Das Greencastle Hotel befand sich an der Bannondale Road, im Ballsbridge-Viertel von Dublin. Die mächtigsten und einflussreichsten Gäste aus den Vereinigten Staaten, Europa und England stiegen hier ab. Sie betraten eiligen Schrittes das Nobelhotel aus hellem Mauerstein, hielten am Tisch des Pförtners, um sich nach Eintrittskarten für die Abtei oder das Gate Theatre zu erkundigen oder Ausflüge nach Glendalough oder Powerscout zu buchen – bisweilen auch bis ans andere Ende Irlands auf die Dingle-Halbinsel oder die Cliffs of Moher. Und hier kam Seamus ins Spiel. Im schwarzen Anzug neben dem silberfarbenen Mercedes des Hotels stehend, hielt er sich bereit, die Reichen an jeden beliebigen Ort zu fahren. Auch wenn es nur zum Flughafen war.
Heute Morgen beispielsweise. Obwohl es erst kurz nach sieben war, hatte er schon einen Gast zum Flughafen gebracht, der einen Flug nach London gebucht hatte, war ins Hotel zurückgekehrt und wartete auf den nächsten Auftrag. Die Morgenluft war frisch, der Himmel klar. Wahrscheinlich würde man ihm einen Geschäftsmann als Fahrgast zuteilen, der zu den Four Courts wollte, anschließend zum Lunch in die Dawson Street, danach zu einem der Bürogebäude im Stadtzentrum und zurück zum Hotel. An einem Tag wie diesem hoffte er in seinem tiefsten Innern gleichwohl auf ein Paar, eine Familie oder jemanden, der die Sehenswürdigkeiten besuchen wollte.
In diesem Augenblick fuhr eine brandneue schwarze Limousine, ein Mercedes-Benz S-Klasse, vor, und die Türsteher eilten herbei, um die Türen aufzureißen. Seamus wusste instinktiv, dass der Kelly-Clan erschienen war. Ein solches Ausmaß an Aufmerksamkeit ließ man hier nur wenigen Einheimischen zuteil werden, abgesehen von Popgrößen wie Bono oder The Edge von der irischen Band U 2 , der Folksängerin Enya, der Politgröße Mary Robinson oder Footballstars wie Dessie Farrell und Colin Moran.
Sixtus Kelly war ein prominenter Barrister, der vor einem Gerichtshof plädierte, Prozessschriften und andere gerichtsrelevante Schriftstücke entwarf. Niall war Richter und William Politiker. Seamus träumte davon, eines Tages am King’s Inn Rechtswissenschaften zu studieren und selber Anwalt zu werden, und deshalb interessierten ihn die Kellys brennend. Er hoffte, eines Tages in einer Kanzlei für ähnlich namhafte Juristen zu arbeiten. Darum ging es schließlich bei diesem Beruf: genug Geld verdienen und Verbindungen knüpfen.
Während er beobachtete, wie die drei Kelly-Brüder lachend und plaudernd unter dem Portikus standen, bemerkte er, dass sie sich in Begleitung eines weiteren Mannes befanden. Er war hochgewachsen und hager, besaß aber keinerlei Ähnlichkeit mit den Kellys. Seine Kleidung war ländlich angehaucht, ordentlich, aber ein wenig abgetragen – Tweedjackett, schwarze Jeans, abgewetzte Stiefel. Er sah aus wie ein Farmer, offen gestanden. Was die Kellys mit ihm zu schaffen hatten, ging über sein Vorstellungsvermögen hinaus. Der Mann machte den Eindruck, als gehörte er in die Stallungen eines der hiesigen Landsitze.
Als der Kelly-Clan im Hotel verschwand, kam John, der Erste Hausdiener, heraus, um ihm einen
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