Eine Frage des Herzens
nicht, dass er es bedauerte, denn es standen viele Dinge darin, die er loswerden musste, auch wenn ein gemäßigter Ton unter Umständen besser gewesen wäre. Vielleicht hätte er hinzufügen sollen, dass sie sich eines Tages – nicht sofort, er musste sich erst von dem Schock erholen, aber irgendwann in Zukunft, möglicherweise nicht einmal in allzu ferner Zukunft – treffen könnten. Treffen und – was? Reden, vielleicht. So in der Art.
Die Wahrheit, der er ins Gesicht sehen musste, war, dass er ohne Bernadette und Tom nicht hier wäre. Es wäre ihm mit Sicherheit auch ohne sie gelungen, Kathleen in Newport ausfindig zu machen. Schwester Anastasia hätte gewiss einen Weg gefunden, ihm die Postkarte zukommen zu lassen. Aber die Reise nach Amerika hätte er nie ernsthaft in Erwägung gezogen, sie als unrealistisch betrachtet, wenn Tom ihn nicht zu Sixtus geschickt hätte.
Die Stewardess näherte sich und bot Getränke an. Seamus bat um ein Bier. Er trank es mit Genuss und schaute dabei zum Fenster hinaus. Irland wirkte so grün aus dieser Höhe. Er hatte diese Bemerkung oft von Touristen aus den USA gehört, unmittelbar nach der Landung, und sie für eine Übertreibung gehalten. Aber es stimmte, davon konnte er sich jetzt selbst überzeugen – weit und breit nichts als smaragdgrüne Flächen, manche durch Straßen oder niedrige Steinmauern zweigeteilt.
Da drüben, die Felsvorsprünge, das musste Kerry sein. Mächtige lange Finger aus Stein, die ins Meer hineinragten. Und dort, gleich nördlich davon, das musste Clare sein, die Klippen von Moher. Sonderbar, sie aus der Luft zu betrachten. Das Licht fiel unmittelbar auf die schroffen Felsen, die majestätisch und atemberaubend aussahen.
Er schaute hinunter, bis sie seinem Blick entschwanden, und dann waren sie plötzlich über dem offenen Meer, nun wirklich auf dem Weg über den Atlantik, auf dem Weg zu Kathleen. Ob er sie finden würde? Er hatte sich von den Touristen-Websites Karten und Informationsmaterial auf den Computer des Hotels heruntergeladen. Die Ausdrucke lagen im Koffer, zusammen mit einem Reiseführer von Rhode Island und einem Straßenatlas von Neuengland.
Er hatte im Lauf der Jahre viel gearbeitet und eisern Geld auf die Seite gelegt. Obwohl geplant war, die Ersparnisse für sein Studium zu verwenden, hatte er einen Großteil von seinem Konto abgehoben und in Reiseschecks umgetauscht. Er musste Kathleen Murphy finden, koste es, was es wolle. Er wusste, dass Newport eine wohlhabende Stadt war, mit vielen Herrenhäusern, Jachten und Luxushotels. Die Lebenshaltungskosten waren vermutlich sehr hoch, aber wenn er eine anständige preiswerte Pension fand, würden seine Mittel eine Weile reichen, lange genug, um sie zu suchen und nach Hause zurückzubringen.
Vorausgesetzt natürlich, dass sie mitkommen wollte. In manchen Nächten, wenn er wach lag, betrachtete er die Postkarte mit dem feinen braunen Schleier, den Toms Blut hinterlassen hatte, die riesigen Paläste am Meer, und stellte sich vor, dass Kathleen in einem von ihnen lebte. Vielleicht waren ihre Eltern gut situiert und hatten sie in eine Prinzessin verwandelt. Die Männer, die sie kennenlernte, waren vermutlich gleichermaßen vermögend und sehr erfolgreich. Bestimmt lebten sie in Häusern, die noch größer waren als das Anwesen ihrer Eltern.
Es war durchaus möglich, dass sie bereits verheiratet war. Er konnte den Gedanken nicht ertragen, aber so schön, intelligent, einzigartig und humorvoll, wie sie war, mussten die Amerikaner mit Blindheit geschlagen sein, wenn es ihnen nicht gelungen war, sie einzufangen.
Doch tief in seinem Herzen, an dem Platz, an dem er die Wahrheit hinter allem erkannte, was wichtig war, wusste er, dass sie nicht verheiratet war. Sie konnte nicht verliebt oder verlobt sein, konnte mit niemand anderem zusammen sein als mit ihm. Hier, im Flugzeug, das nach Westen flog und sich ihr zusehends näherte, glaubte er ihre Anziehungskraft zu spüren – sie war der Vollmond, er die Flut, sie gehörten zusammen.
Während die übrigen Passagiere schliefen oder sich den Film ansahen, umklammerte er den Ring und blickte zum Fenster hinaus, erspähte durch die hohen dünnen Schleierwolken den schieferfarbenen Ozean tief unter ihm. Winzige Schaumkronen, Frachter, Tanker, dann eine Insel, eine weitere Insel, eine Landmasse.
»Amerika«, flüsterte er.
Er sah, wie die endlose Weite Nordamerikas ins Blickfeld rückte. Massiv und unantastbar breitete sie sich in Braun- und
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