Eine Frage des Herzens
»Immigration«-Schalter, vor dem eine lange Schlange stand. Er kam nur schrittweise vorwärts, was ihn zur Weißglut trieb. Er blickte sich um und überlegte fieberhaft, ob er jemandem etwas sagen sollte – aber was? Dass es sich um einen Notfall handelte und er das dumpfe Gefühl hatte, ein Mädchen, das er seit zehn Jahren nicht mehr gesehen hatte, bedürfe dringend seiner Hilfe?
Er unterdrückte das Bedürfnis und brachte problemlos die Einreiseformalitäten hinter sich, vor allem, weil der Inspektor Ire war, T. C. Devlin, wie aus dem Namensschild hervorging.
»Grund Ihres Besuches?«, fragte er.
»Liebe«, sagte Seamus.
»›Geschäftlich‹ oder ›Urlaub‹ hätte gereicht«, erwiderte der Mann lächelnd. Aber er stempelte Seamus’ Reisepass ab, nickte ihm zu, und das war’s.
Jetzt noch U. S. Customs – Seamus hatte nichts zu verzollen –, und schon lief er in Richtung Ausgang. Er traf einige seiner Mitreisenden wieder, die es nun eilig hatten. Einige kehrten nach Hause zurück, andere kamen, um Land und Leute kennenzulernen. Die Doppeltüren gingen auf, und die Familien begrüßten sich mit lautem Hallo. Seamus überflog die wartende Menschenmenge, beinahe gewohnheitsmäßig, doch dieses Mal befand er sich auf der anderen Seite statt in der Reihe der livrierten Fahrer, die ein Schild mit den Namen der Hotelgäste in großen schwarzen Buchstaben hochhielten.
Überall Familien – Menschen, die wieder vereint waren, sich begrüßten, überglücklich über das Wiedersehen. Seamus schluckte; seit Kathleen hatte sich niemand mehr gefreut, ihn zu sehen, wie ihm die Ankunft in Amerika bewusst machte. Er hörte, wie seine Sitznachbarin »Frank!« rief und sich in die Arme ihres Mannes stürzte. Die beiden küssten sich, sie schienen glücklich miteinander zu sein. Seamus blieb einen Moment stehen und sah sich nach dem Ausgang um.
Als er seinen Blick von dem Paar löste, entdeckte er eine Nonne. Wie schön – sie gehörte dem Orden Notre Dame des Victoires an. Er würde den Habit überall erkennen – das lange schwarze Gewand, den weißen inneren Teil des Schleiers, der ihr Gesicht umrahmte, und den schwarzen äußeren Teil, der über ihre Schultern fiel. Bei dem Anblick war seine Kehle wie zugeschnürt. Es war wie eine Heimkehr, und er sah darin ein gutes Omen für Kathleen und ihn. Als er ihren Blick suchte, um sie zu grüßen, sah er, dass sie ihn anschaute.
Die blauen Augen der Nonne strahlten, sie lächelte, und er hatte mit einem Mal das Gefühl, als würden sie sich kennen. Er stutzte, dann ging er auf sie zu. War sie eine seiner Lehrerinnen gewesen? Oder im St. Augustine’s? In diesem Moment rief sie seinen Namen.
»Seamus.«
Aber sie hatten ihn dort als James gekannt …
»Schwester«, erwiderte er höflich.
Und dann sah er die roten Haarsträhnen, die sich aus dem Schleier gelöst hatten. Und neben ihr einen hochgewachsenen Mann mit glänzenden Augen, die Nase krumm und schief, doch ansonsten abgeheilt.
»Tom.« Seamus streckte die Hand zur Begrüßung aus. Tom tat desgleichen, und ihre Ringe stießen klickend aneinander – die beiden Kelly-Wappenringe mit dem Emblem des Meeresungeheuers.
»Willkommen in Amerika«, sagte Tom.
»Ja, Seamus, willkommen«, fügte Schwester Bernadette hinzu. Und als könnte sie nicht länger an sich halten, breitete sie die Arme aus. Vielleicht lag es daran, dass er vom Flug erschöpft war oder sie den Habit trug, den er so lange mit Liebe, Fürsorge und Mütterlichkeit in Verbindung gebracht hatte – er öffnete ebenfalls die Arme und ließ sich umfangen.
Dann war der Augenblick vorüber. Er löste sich von ihr, und sie trat einen Schritt zurück, und alle standen da und sahen sich an. Seamus war verlegen, aus tausend Gründen, die er nicht einmal benennen konnte.
»Verreisen Sie?«, fragte er. »Ich möchte Sie nicht länger aufhalten, ich bin selbst in Eile.«
»Seamus, wir sind hier, um dich abzuholen.«
»Ich verstehe nicht.« Er runzelte verwirrt die Stirn. »Woher wussten Sie von meiner Ankunft?«
»Tom hat es erfahren«, antwortete sie. »Von Sixtus …«
»Oh.« Hatte er Sixtus gegenüber die Abflugzeit erwähnt oder dass er nach Boston flog? In seinem Kopf drehte sich alles. Litt er unter dem, was man als Jetlag bezeichnete? Er wollte ihre Gefühle nicht verletzen; obwohl er nicht halb so wütend war wie bei der ersten Begegnung in Dublin, hatte er keine Ahnung, was sie von ihm wollten. Abgesehen davon musste er nach
Weitere Kostenlose Bücher