Eine Frage des Herzens
Newport zu Kathleen. »Es tut mir leid, aber ich muss los.«
»Wir bringen dich zu ihr«, sagte Tom.
»Aber Sie wissen doch gar nicht, was ich vorhabe, wohin ich will … Es tut mir leid, dass ich beim letzten Mal so unhöflich war, und dieses Mal schon wieder, aber es ist dringend …«
»Er weiß, wohin du willst.« Schwester Bernadette legte ihre Hand auf Seamus’ Arm und sah ihm in die Augen. »Er hat Kathleen gefunden, für dich.«
»Kathleen?«, fragte Seamus ungläubig, mit versagender Stimme.
»Ja.« Tom nahm Seamus’ Reisetasche. »Aber wir müssen uns beeilen, wir haben nicht viel Zeit.«
»Ich weiß. Kathleen braucht mich.«
»Ich fürchte, du hast recht.« Tom eilte voraus, als verstünde er Seamus auch ohne Worte.
Bernie nahm zwischen Tom und Seamus in der Fahrerkabine des Pick-ups Platz. Der linke Arm berührte Tom, der rechte Seamus, und sie fühlte sich beiden nahe. Nicht nur physisch. Seamus’ Augen hatten aufgeleuchtet, als er ihrer ansichtig geworden war, als hätte er sie auf Anhieb wiedererkannt. Vielleicht nicht als seine Mutter, ja, nicht einmal als Schwester Bernadette Ignatius, sondern als Angehörige des Ordens Notre Dame des Victoires. Sie hatte seine Reaktion auf den Habit als tröstlich empfunden, denn sie sagte ihr, dass er den Schwestern zugetan war, die ihn großgezogen hatten.
Das machte alles ein wenig leichter. Der heutige Tag war reich an Wundern, wenngleich nicht im üblichen Sinn. Sie wusste, dass die meisten Menschen mit diesem Begriff Augenblicke höchsten Glücks verbanden – eine Genesung, ein Heilverfahren, eine »Auferstehung«. Und in vieler Hinsicht wäre das Wort Glück zutreffend, um den Tag zu beschreiben. Das Wiedersehen mit ihrem Sohn, die physische Nähe, als sie nun zwischen ihm und Tom, seinem Vater, saß. Sie spürte die Kraft, die von beiden ausging, ihren Körper durchströmte und zurückfloss.
Und nicht zu vergessen die Geschehnisse in der Blauen Grotte. Es war mehr als zwei Jahrzehnte her, seit sie vor der Statue der Jungfrau Maria gekniet hatte und diese von ihrem Sockel herabgestiegen war, um ihre Tränen zu trocknen und sie mit Worten der Liebe und Barmherzigkeit zu trösten. In der Sprache der Gläubigen wurde ein solches Wunder Marienerscheinung genannt.
Doch für Bernie hatte es sich nicht um eine Erscheinung gehandelt. Maria war real für sie gewesen, sie hatte ihre Berührung gefühlt, ihre Worte vernommen, Zeit mit ihr verbracht, ihre Gegenwart gespürt. Und an diesem Morgen war es abermals geschehen.
Ihre Haut prickelte noch immer. Da sie auf der Sitzbank des Pick-ups in der Mitte saß, erhaschte sie im Rückspiegel einen flüchtigen Blick auf ihr Gesicht. Auf ihrer rechten Wange befand sich ein kaum sichtbarer Abdruck, hellrot, wie ein Insektenstich oder ein Brandmal, genau an der Stelle, an der Marias Hand sie berührt hatte. Er fühlte sich empfindlich an, schmerzte aber nicht. Sie spürte nur die liebevolle Präsenz Gottes, die sich darin offenbarte.
»Sei bereit«, hatte Maria gesagt. Was hatte sie damit gemeint, und warum hatte Bernie ein flaues Gefühl im Magen, wenn sie nur daran dachte? Noch vor wenigen Stunden hatte sie in die gütigen, liebevollen Augen der Muttergottes geschaut und gefragt, was die Worte zu bedeuten hätten, doch Maria hatte nur wiederholt:
Sei bereit.
Tom fuhr so schnell er konnte. Der Pick-up wechselte ständig auf die Überholspur. Seamus blickte aufmerksam aus dem Fenster, vermutlich in Gedanken bei Kathleen. Tom konzentrierte sich darauf, Zeit zu gewinnen, so schnell wie möglich nach Newport zu gelangen. Keiner sprach.
Bernie war froh darüber. Sie brauchte Zeit, um nachzudenken und zu beten. Als der Pick-up in die Kurve ging und sie gegen Tom geschleudert wurde, spürte sie, wie er sich fragte, ob sie sich angesichts der drangvollen Enge unbehaglich fühlte. Doch gleichzeitig wusste sie, was es für ihn bedeutete – nicht nur, dass ihr Sohn mit ihnen im Auto saß, was überwältigend war, sondern die schlichte Tatsache, dass Tom und sie sich berührten. Sie sah ihm an, wie glücklich es ihn machte; die Lachfältchen an seinen Augenwinkeln vertieften sich, und ein Lächeln spielte um seinen Mund.
Bernie musste die Augen schließen; sie war unsäglich dankbar für diese Zeit. Sie betete, dass Tom um die Tiefe ihrer Liebe wusste und ermessen konnte, wie sehr sie das Geschenk schätzte, das er seit jeher in ihrem Leben darstellte. Sie bat inständig, ihr mögen die richtigen Worte
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