Eine Frage des Herzens
Arm um Kathleen. »Wir haben unser Leben noch vor uns. Das Beste kommt erst.«
Bei diesen Worten verzog Kathleen das Gesicht und begann zu weinen. Alle waren bestürzt, und der Anblick ihrer Tränen traf Seamus wie ein Messerstich ins Herz. Was war mit ihr? Hatte er etwas Falsches gesagt?
»Tut mir leid«, meinte sie schluchzend. »Das ist die Aufregung. Ich bin so glücklich, völlig außer mir vor Freude. Aber ich habe einfach nicht damit gerechnet …«
»Schon gut.« Seamus hielt sie in den Armen und versuchte sie zu beruhigen.
»Warte, bis wir in Star of the Sea sind«, sagte Regis. »Dann hast du hinreichend Gelegenheit, dich auszuruhen, Zeit mit Seamus zu verbringen und den Dachboden zu vergessen.« Sie schauderte. »Ich fand es schrecklich dort oben. Das Zusammenleben mit diesen Leuten muss ein Alptraum gewesen sein.«
Plötzlich spürte Seamus, wie Kathleen am ganzen Körper zu zittern begann. Sie presste die Hände auf ihren Magen, als wäre ihr übel. Regis und ihre Freundinnen sahen besorgt aus, und Mirandes Mutter trat näher und blickte Kathleen in die Augen.
»Alles in Ordnung?«, fragte Mrs. St. Florent. »Können wir etwas für Sie tun?«
»Ist schon wieder gut.« Lächelnd wischte Kathleen die Tränen fort. »Die Gefühle spielen verrückt, mehr nicht. Alles in Ordnung, es ist nur … Die Fahrt dauert ziemlich lange, und wir müssen unter Umständen ein- oder zweimal anhalten. Ich werde leicht reisekrank …«
»Sag einfach Bescheid, dann fahre ich sofort rechts ran«, meinte Mirande.
Monica und Juliana erboten sich, zu tauschen und auf die hinterste Sitzbank entgegen der Fahrtrichtung überzuwechseln, und Seamus folgte Kathleen in die mittlere Sitzreihe. Mirande küsste ihre Mutter zum Abschied, dann stiegen Regis und sie ein, und sie fuhren los.
»Wie schade, dass wir keine Besichtigungstour mit dir machen können, da du doch das erste Mal in Newport bist«, rief Mirande zu Seamus hinüber. »Dabei ist die Stadt so schön. Und glaube bitte nicht, bei uns wäre alles und jeder wie Oakhurst und die Wells …«
»Das denke ich nicht.«
»Hier gibt es unberührte felsige Küstenabschnitte am Atlantik, riesige schlossähnliche Häuser, die hoch über abgeschiedenen kleinen Buchten aufragen, wobei jedes Haus unzählige Schornsteine hat, wilde Rosen überall – die letzten blühen noch – und schroffe Klippen am Meer …«
»Der Cliff Walk«, sagte Seamus, wobei die Worte einen Funken in ihm entzündeten.
»Genau«, erwiderte Mirande. »Der spektakulärste Fußweg in Amerika. Er führt zehn Meilen an einer atemberaubenden Küste entlang. Unterwegs findet man zahlreiche Sehenswürdigkeiten – Paläste, einen Tunnel quer durch Felsgestein, ein chinesisches Teehaus, Forty Steps und Rosecliff, das Haus, in dem der Film
Der große Gatsby
gedreht wurde …« Mirande klang aufgeregt, während sie die Touristenattraktionen aufzählte, die den Cliff Walk zu einem wichtigen Teil Newports machten.
Für Seamus hörte sich das alles interessant an, aber für ihn war der Cliff Walk aus einem anderen Grund von Bedeutung. Er war auf der Postkarte abgebildet, die Kathleen geschrieben und die ihm einen Hinweis auf ihren Aufenthaltsort geliefert hatte.
»Sollen wir einen Abstecher dorthin machen, bevor wir nach Connecticut weiterfahren?«
Seamus’ Herz schlug schneller bei dem Gedanken, den Ort zu sehen, der für Kathleen und ihn so große symbolische Bedeutung besaß. Es hätte ihm gefallen, auf den Klippen zu stehen, auf den Atlantik hinauszublicken, in die Richtung, in der Irland lag, und laut hinauszuschreien, dass er sie gefunden hatte. Doch Kathleen war kreidebleich, als hätte die Reisekrankheit bereits eingesetzt, und so schüttelte er den Kopf, als Mirande in den Rückspiegel blickte und auf seine Reaktion wartete.
»Ich glaube, das lassen wir lieber«, sagte er.
»Finde ich auch«, meinte Regis mit Blick über die Schulter, als sie Kathleens Blässe und Unwohlsein bemerkte.
»Kein Problem«, erklärte Mirande. »Unsere nächste Station ist also Star of the Sea.«
Mirande fuhr rückwärts aus der Einfahrt. Sie waren kaum einen Straßenblock weit gekommen, als Kathleen ein leises Stöhnen von sich gab. Sie sah Seamus so hilfesuchend und kläglich an, dass er ihre Hand ergriff. Er kannte sie durch und durch, auch noch nach so vielen Jahren. Er spürte, dass sie Höllenqualen litt, die sich nicht auf die Reisekrankheit beschränkten.
»Was ist mit dir?« Er hielt ihre Hand.
»Das
Weitere Kostenlose Bücher