Eine Frage des Herzens
Wänden gerissen wurden. Kathleen hörte, wie Mrs. Wells kreischte, jemand solle endlich die Polizei anrufen, dann ertönte abermals die Stimme, die mit irischem Akzent »Aus dem Weg!« brüllte und in der jede Hoffnung und jeder Traum, die sie jemals gehabt hatte, einen grausamen Widerhall fanden.
Ihr Herz klopfte zum Zerspringen. Sie ergriff Regis’ Hand und umklammerte sie mit letzter Kraft. War das Ende der Welt gekommen, lief ihr Leben wie ein Film vor ihrem inneren Auge ab? Schwere Schritte polterten über die rauhen Dielenbretter des Dachgeschosses, und dann sah sie jemanden um die Ecke biegen. Das konnte nicht sein …
»James!«, keuchte sie.
Und dann trat Regis einen Schritt zurück und beiseite, und er kam auf sie zu.
Er war erwachsen, hatte sich in einen attraktiven Mann verwandelt, bei dessen Anblick ihr wieder die Tränen über die Wangen liefen – die roten Haare und Sommersprossen, die lachenden blauen Augen. Doch in diesem Moment war kein Funken Humor in ihnen zu entdecken, nur abgrundtiefe Liebe und Sehnsucht, die auch Kathleen jeden Tag nach ihm gehabt hatte.
»Kathleen.« Er umfing sie mit beiden Armen und drückte sie an sich. Ihre Herzen verschmolzen miteinander, schlugen im Gleichtakt wie zwei Hälften eines Ganzen, die endlich wieder eins waren. Sie hatte das Gefühl, aus einem tiefen Schlaf erwacht und wieder lebendig zu sein.
»James, bist du es? Bist du es wirklich?«
»Ja. Ich habe dich gefunden.«
»Wenn du wüsstest, wie oft ich von dir geträumt habe.« Sie schluchzte auf und legte den Kopf zurück. Inmitten der Dunkelheit des verborgenen Dachgeschosses, der Kälte und drangvollen Enge der ausrangierten Objekte, in Gesellschaft der Geister einer unannehmbaren Liebe hatte sie endlich das Gefühl, wieder die Sonne auf ihrem Gesicht zu spüren – die vor zehn Jahren aus ihrem Leben verschwunden war, an jenem Tag am Strand in der irischen Grafschaft Wexford. »James, ach James.« Ihre Augen waren weit aufgerissen. Sie traute sich nicht zu blinzeln, aus Angst, es könnte sich um eine Erscheinung handeln, die sich in Luft auflösen oder verschwinden würde.
»Ich liebe dich, Kathleen«, flüsterte er und wischte ihr die Tränen fort, während seine eigenen ungehindert flossen. Mit der einen Hand umfing er ihre langen Haare, küsste ihre Wangen, ihre Lippen, ihre Haare. Sein Blick verriet ihr, woran er dachte.
»Du hast sie immer zu Zöpfen geflochten«, flüsterte sie.
»Komm, lass uns gehen, Liebste,« sagte er und hob sie auf seine Arme. An seine Brust gedrückt, trug er sie an Regis vorbei. Er trat über die Schwelle. Die zersplitterte grüne Tür stand weit offen, die Holzlatten waren heruntergerissen, Nägel standen heraus, aber er trug sie vorsichtig um jedes Hindernis herum.
Sie kamen an den Wells vorbei, die sich zusammendrängten, und James brachte sie wortlos die Treppe hinunter. Kathleen hatte ihre Arme um seinen Hals geschlungen. Sie hörte die Familie reden, doch die Worte schienen einer fremden Sprache anzugehören.
Der einzige Mensch, den sie verstehen konnte, war James, der ihr etwas ins Ohr flüsterte.
»Wir werden uns nie wieder trennen, Kathleen. Nie wieder.«
Er trug sie die breite, gewundene Freitreppe an der Vorderseite des Hauses hinunter, vorbei an Beth und einem Mädchen mit einem schwarzen Barett, das neben einer anderen jungen Frau stand, strahlte und in einer Siegesgeste die zur Faust geballte Hand in die Höhe streckte. Vorbei an einer Nonne im Habit der Ordensfrauen von Notre Dame des Victoires und dem Mann mit den blauen Augen – James’ Augen –, den sie gestern vom Mansardenfenster aus in seinem grünen Pick-up gesehen hatte. Die Nonne streckte ihr mit Tränen in den Augen die Hand entgegen, und Kathleen ergriff sie instinktiv. Die kurze Berührung war wie ein Stromschlag, der ihren ganzen Körper erfasste, und als sie über James’ Schulter spähte, sah sie, wie die Nonne an der Brust des blauäugigen Mannes weinte.
Kathleen zitterte in James’ Armen, unfähig, ihn loszulassen, auch dann, als er sie auf den Vordersitz des grünen Pick-ups hob, der dem blauäugigen Mann gehörte und in der Haltebucht an der Bellevue Avenue parkte. Und sie hatte auch dann noch die Arme um seinen Hals geschlungen, ihr Gesicht tränenüberströmt, als er sie küsste.
Als sie in seine Augen blickte, war ihr, als wären sie mehr als ein Menschenleben getrennt gewesen, doch zugleich schien die Zeit stehengeblieben zu sein. James war noch derselbe, den
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