Eine Frage des Herzens
im Wechsel mit den Jahreszeiten anfallen?« Und als wäre John nicht vorhanden, hob sie abermals die Stange und stieß damit gegen einige vereiste Blätter; aber sie war nicht mehr mit dem Herzen dabei. »Er wusste genau, wann die Rosen beschnitten oder die jungen Buchsbäume mit Rupfen zugedeckt werden müssen oder welche Art der Pflege die ältesten Gewächse auf dem Anwesen brauchen, die Stechpalmen und Kalmien, die Francis X. Kelly noch zu seinen Lebzeiten gepflanzt hat. Er hielt sie in Ehren, weil sie ein Bindeglied zu seiner Familie darstellten.«
»Wir waren auch seine Familie.«
»Aber diese Sträucher sind alt und selten«, entgegnete Bernie, als hätte sie Johns Worte nicht gehört, und runzelte die Stirn. »Was tun wir, wenn der Sturm sie beschädigt?«
»Bernie, darüber sollten wir uns jetzt nicht den Kopf zerbrechen«, erwiderte John sanft und griff nach der Holzstange.
»Aber das müssen wir!«, rief sie und wich zurück. »Weil das Eis heute darauf lastet! Wenn ich mich nicht gleich darum kümmere, könnte die Stechpalme splittern und bersten, und dann ist es zu spät! O John, das kann ich nicht zulassen! Ich habe Tom auch so schon genug angetan!«
John nahm seiner Schwester die Holzstange aus der Hand, ließ sie krachend zu Boden fallen und zog Bernie an sich.
»Bernie, das darfst du dir nicht antun.«
»Ich glaube, er starb an gebrochenem Herzen«, schluchzte sie.
»Es war ein
Herzanfall
«
,
entgegnete John. »Unverhofft und schrecklich, aber es war nicht deine Schuld. Denk doch, Bernie, er starb in dem Wissen, dass er Seamus nach Amerika gebracht und ihm geholfen hat, Kathleen zu finden. Alle waren zusammen – genau das hat sich Tom immer gewünscht.«
»Ja«, ertönte eine Stimme hinter ihnen.
Bernie im Arm, drehte John sich um. Es war Seamus unter einem schwarzen Regenschirm. Er trat einen Schritt vor und hielt den Schirm schützend über Bernie.
»Seamus.« Bernie sah ihn erschrocken an.
»Dein Bruder hat recht, genau das hat Tom sich gewünscht.«
Bernie beeilte sich, die Tränen wegzuwischen. Sie riss sich zusammen, sammelte Kraft aus dem Nichts, für Seamus. Sie zitterte noch, aber ihr Blick war unverwandt auf Seamus gerichtet. So gerne John ihr auch eine Stütze gewesen wäre, ihr geholfen hätte, ihre Fassung wiederzugewinnen und in den Konvent zurückzukehren, er konnte geradezu hören, wie sein alter Freund Tom ihm zuflüsterte, die beiden alleine zu lassen.
»Hallo, Seamus«, sagte er.
»John«, erwiderte Seamus.
»Bernie, ich muss jetzt gehen. Honor braucht mich im Haus.«
Bernie nickte. Sie hatte kaum einen Blick für ihn übrig.
John sah, wie Seamus sie vor dem Eisregen schützte. Seine Kehle war wie zugeschnürt, als er daran dachte, wie oft er Bernie und Tom bei einem Spaziergang im Regen unter einem schwarzen Schirm gesehen hatte. Tom hätte sich über die Aufmerksamkeit seines Sohnes gefreut. Und er hörte abermals, wie Tom Kelly ihm sagte, er solle Bernie endlich mit ihrem Sohn alleine lassen.
Eine Aufforderung, der er umgehend Folge leistete.
»Seamus«, sagte Bernie, »geh ins Haus. Es ist eisig draußen.«
»Ich habe vom Fenster aus gesehen, wie du auf den Baum losgegangen bist. Ich wollte wissen, was du da machst.«
»Ich habe nur das Eis heruntergeschlagen. Der Baum ist alt, und Tom hat ihn gehegt und gepflegt.« Sie sah Seamus an. Die Stechpalme war ihr wichtig erschienen, doch es gab Wichtigeres. »Lass uns hineingehen.«
Sie kamen nur langsam auf dem schmalen gewundenen Weg voran. Der Boden war glatt, und Bernie rutschte immer wieder aus. Seamus hielt den Schirm über sie. Nach ein paar Minuten trat er näher zu ihr und schob ihren Arm durch seinen.
»Damit du nicht ausrutschst«, sagte er.
»Gibt es in Irland auch solche Eisstürme?«
»Nein. Das Klima ist im Allgemeinen gemäßigter. Aber die Eiskristalle sind wunderschön.«
»Das sind sie wohl.« Bernie blickte sich auf dem Campus um und versuchte ihn mit Seamus’ Augen zu betrachten. Überall glitzerte es, auf den hohen Blautannen, den Schieferdächern, auf dem weitläufigen Zufahrtsweg und den Eibenhecken. Sie zitterte innerlich, bemühte sich jedoch, sich nichts anmerken lassen. War er gekommen, um sich zu verabschieden? Sie hatten kaum ein Wort miteinander gewechselt. Und sie hatte ihn auch nur selten in Gesellschaft von Kathleen gesehen. Seine Welt war aus den Fugen geraten, und sie wusste nicht, was sie ihm sagen oder wie sie ihm helfen sollte.
»Seamus«, begann sie.
»Es
Weitere Kostenlose Bücher