Eine Frage des Herzens
fort.
»Wir haben uns bemüht, niemandem im Weg zu sein. Angesichts all dessen, was geschehen ist …«
»Ich habe dich immer nur kurz gesehen, im Refektorium oder bei einem Spaziergang, aber ich hatte den Eindruck, als wärst du völlig außer dir …«
»Es war ein Schock zu erfahren, dass sie schwanger ist«, gestand Seamus.
»Ja.« Bernie dachte an die Zeit zurück, als sie es Tom gesagt hatte.
»Das hatte ich nicht erwartet, aber … ich bin mir nicht sicher, ob es wichtig ist. Wir sind füreinander bestimmt.«
»Heißt das … du bleibst bei ihr, so oder so?«
»Ich liebe sie«, sagte Seamus mit hitzigem, stolzem Blick. »Und ich möchte, dass wir zusammenbleiben.«
»O Seamus.«
»Egal, was geschieht.«
»Hast du es ihr schon gesagt?«
»Natürlich. Ich könnte es nicht ertragen, dass sie sich Sorgen macht.«
»Du bist ein Mann, wie man ihn sich nur wünschen kann. Tom wäre stolz auf dich.«
Er zuckte mit den Schultern. Seine Miene war weicher geworden, doch sein Blick war stetig und fest. Gegen den Wind ankämpfend, hatten sie einen großen Bogen von der meerwärts gelegenen Seite der Academy zum Innenhof geschlagen. Die von Francis X. Kelly aus Belgien importierten Pflastersteine glitzerten unter der Eisschicht. In dem Moment trafen die ersten Autos mit den Trauergästen ein. Bernie, die mit Seamus das Geschehen aus einiger Entfernung verfolgte, hätte sich am liebsten verkrochen. Sie wünschte, sie könnte hinten in der Kirche stehen, Toms Sarg auf den Friedhof folgen und dann still und heimlich verschwinden.
»Du hattest eine Vision, ist das richtig?«, fragte Seamus plötzlich.
Sie nickte. »Ja.«
»Und Maria sagte dir, was du tun sollst? Dass du mich weggeben und ins Kloster eintreten sollst?«
»Ich dachte, das hätte sie damit gemeint. Ihre Anwesenheit schien zu bestätigen, was ich tief in meinem Inneren empfand. Ich hatte den brennenden Wunsch, Gott zu lieben und ihm zu dienen. Aber ihre Worte könnten auch eine andere Bedeutung gehabt haben. Das wurde mir erst beim zweiten Mal klar, an dem Tag, als Tom starb.«
»Ich verstehe nicht.«
Bernie schluckte. Sie hatte niemandem von ihrer letzten Marienerscheinung erzählt. Sie wusste, wie schnell solche Neuigkeiten die Runde machten, wie sich eine tiefgreifende persönliche Erfahrung in eine Begebenheit verwandelte, zu der die ganze Kirche Stellung nahm. Doch die Art, wie Seamus sie ansah – mit Toms blauen Augen –, machte ihr bewusst, dass sie ihn einweihen musste.
»Maria erschien mir an jenem Morgen, bevor Tom mich im Star of the Sea abholte, um mit mir zum Flughafen zu fahren, wo wir auf deine Ankunft warteten.«
»Was hat sie gesagt?«
»Sie sagte: ›Sei bereit.‹« Bernie sah ihn an. Sie dachte an den Cliff Walk. Tom hatte seinen letzten Atemzug an einem Ort getan, der den Klippen von Moher glich, wo sie ihren Sohn gezeugt hatten. Die Erinnerung hatte sie so gefangen genommen, dass sie die Gegenwart vergessen hatte. »Aber ich war nicht bereit …«
In diesem Augenblick trafen die Kellys ein. Schwarze Lincoln-Limousinen und Cadillacs strömten auf den Parkplatz, und die schwarz gekleideten Mitglieder der Familie begaben sich auf den Weg zur Kapelle. Chris aus Hartford, Sixtus, Niall und Billy aus Dublin. Sixtus entdeckte Seamus und Bernie, und die Brüder aus Dublin eilten herbei.
»Er hatte das typische Kelly-Herz«, sagte Sixtus mit Tränen in den Augen und umarmte Bernie.
»Daran kann es keinen Zweifel geben«, erwiderte Bernie. »Er war so stark und mutig.«
»Und es hat versagt«, meinte Niall. »Viel zu früh …«
»Unser Vater starb auch viel zu jung«, ließ sich Billy vernehmen. »Ohne ersichtlichen Grund. Eine unsägliche Tragödie.«
»Herzliches Beileid, mein Junge«, sagte Sixtus und umarmte Seamus. »Niall, Billy – das ist Seamus. Tom war sehr stolz auf ihn.«
Daraufhin schlossen alle Kelly-Cousins Seamus in die Arme und sagten ihm, er solle nicht vergessen, dass er eine Familie in Dublin habe, die sich freuen würde, ihn zu sehen, er sei stets willkommen am Merrion Square und möge sich dort wie zu Hause fühlen. Bernie beobachtete, wie er die Worte aufnahm – mit aufrechtem Körper, um Zurückhaltung bemüht, doch seine Augen leuchteten vor Stolz. Sixtus ging seinen Brüdern in die Kapelle voran und sagte Seamus, er wolle später noch etwas mit ihm besprechen.
Seamus wandte sich Bernie zu. Seine Miene verriet, dass er zwischen Freude und Kummer hin- und hergerissen war.
»Sie sind
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