Eine Frage des Herzens
soll denn das heißen?«
»Genau das, was ich sagte. Sie ist völlig aufgelöst, doch das würde sie nie zugeben. Wenn sie aufhören würde, sich mit tausend Dingen zu beschäftigen, und zum Nachdenken käme, würde sie in Scherben zerspringen. Ich kenne meine Schwester. Ich hoffe, dass sämtliche Engel und Erzengel ihr beistehen, denn die wird sie brauchen. Toms Tod ist ein unsäglicher Verlust für uns alle, besonders aber für Bernie.«
»Und ausgerechnet jetzt ist Seamus auf Star of the Sea, nach so vielen Jahren«, sagte Honor. »Wie glücklich Tom gewesen wäre … O Gott.«
»Seamus geht im Moment durch die Hölle«, erklärte John.
Honor blickte Regis an. Sie zitterte, als würde sie wieder das Bild vor sich sehen, wie ihr Vater Mirandes Wagen entgegengeeilt war, als sie ins Star of the Sea einbogen. Bernie hatte ihn aus Newport angerufen und ihm mitgeteilt, was geschehen war. Es war Johns erste Begegnung mit Seamus, und er musste ihm sagen, dass sein Vater gerade gestorben war.
»Armer Seamus«, seufzte Regis. »Er war am Boden zerstört, als er von Kathleens Schwangerschaft erfuhr. Ich habe sein Gesicht gesehen, als sie es ihm sagte. Er war schweigsam, hat während der ganzen Fahrt kaum ein Wort geredet. Und als ich Dads Gesicht sah … Ich schwöre, ich wusste im selben Moment Bescheid …«
»Wie geht es jetzt mit Seamus und Kathleen weiter?«, fragte Honor.
»Mom, lass ihnen Zeit, ein Problem nach dem anderen in Angriff zu nehmen. Heute müssen wir Tom zu Grabe tragen.« Als sie Honors Miene sah, umarmte sie ihre Mutter. »Es tut mir leid, dass ich dich angefahren habe. Aber es ist alles ein bisschen viel auf einmal. Ich denke, dass Seamus uns verlassen wird, sobald die Beerdigung vorüber ist.«
»Wie kommst du darauf?«
»Er sah so ausgelaugt aus, als er gestern zum Strand ging«, antwortete Regis. »Kein Wunder, wenn man eine Frau ein Leben lang liebt und dann erfährt, dass sie ein Kind von einem anderen erwartet.«
»Ich habe ihn auch unten am Strand gesehen«, sagte John. »Ich habe noch überlegt, ob ich zu ihm gehe, aber er hat mir einen derart finsteren Blick zugeworfen …«
»Er hat viel durchgemacht«, meinte Honor eingedenk dessen, was Bernie ihr über Seamus’ bisheriges Leben erzählt hatte. Würde es ihm gelingen, das alles zu verkraften? Sie dachte daran, wie sehr er Kathleen liebte und wie verzweifelt er sein musste, dass sie ein Kind von einem anderen erwartete. Bernie hatte befürchtet, dass er das Weite suchen würde. Sie betete nur, dass er damit bis nach der Beerdigung wartete. Um seiner selbst und um Bernies willen.
»Dieser Eisregen ist grauenhaft«, sagte Regis, die zum Fenster gegangen war und hinausblickte, entrüstet. »Dabei haben wir erst Oktober. Die Kälte ist völlig untypisch für die Jahreszeit. Regen wäre schon schlimm genug, aber Eis macht alles noch schlimmer. Grauenvoll, dieses trübsinnige Wetter!«
»Stimmt«, pflichtete Agnes ihr bei, die gerade die Küche betrat.
»Ich spüre dieses nasskalte Wetter in den Zehen und Fingern«, sagte Cece, die ihr unmittelbar folgte. Cece war erst zwölf und begann zu weinen. »Onkel Tom hätte diesen Tag gehasst.«
»Wie kommst du darauf?« Honor umarmte sie. »Er war Landschaftsgärtner. Ihm war jedes Wetter recht. Regen, Sonne, für ihn spielte das keine Rolle. Er sagte immer, die Kälte sei unabdingbar für die Pflanzen, Zwiebelgewächse und Sträucher. Er sagte: ›Einen guten Winterschlaf wünsche ich euch in der kalten Erde; wir sehen uns im nächsten Frühjahr …‹« Honors Kehle war plötzlich wie zugeschnürt. Sie würden Tom nicht wiedersehen, weder im nächsten Frühjahr noch sonst wann.
»Und dennoch hat Cece recht«, meinte John. »Den Eisregen mochte Tom nicht. Er war zu schwer für die Pflanzen. Nach jedem Eissturm machte er sich Sorgen, dass die Äste der Bäume und Sträucher unter dem Gewicht nachgeben könnten.«
»Trotzdem ist das Eis schön«, entgegnete Agnes, die den Arm um Regis gelegt hatte und aus dem Fenster blickte. Ein zarter silberner Schimmer bedeckte alles, was sich in Sichtweite befand: jeden Grashalm, jedes Blatt, jeden Stein in der Mauer. »Wie traurig, dass Onkel Tom es nicht mehr sehen kann … nie mehr …«
Honor blickte zu John hinüber, um zu sehen, wie er die Worte aufnahm. Seine Augen waren vor Kummer verhangen, als er sich nun auf die Bank setzte und Socken und Stiefel anzog. Auch ohne Worte wusste sie, was er vorhatte – fotografieren. Er war Künstler
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