Eine Frage des Herzens
Hand pochte. Er zitterte noch immer am ganzen Körper nach dem Kampf, doch seine Wut war verraucht. Auf der anderen Seite des Raums, im Bücherregal neben seinem Bett, befand sich ein Atlas. Er konnte jederzeit einen Blick hineinwerfen und Newport, Rhode Island, suchen. Kathleen suchen. Doch er blieb reglos sitzen. Zu wissen, dass die Postkarte von ihr stammte, war beinahe mehr, als er verkraften konnte.
16
T om sagte unter einem Vorwand das Abendessen ab, und die Kellys hatten Verständnis für die unverhoffte Änderung der Pläne. Zumindest war es das, was Tom Bernie erzählte, bevor er sich in Schweigen hüllte. Sie saßen am Flughafen neben dem Gate, und warteten darauf, dass ihr Flug aufgerufen wurde. Bernie trug ihren schwarzen Habit nebst Schleier, der Rosenkranz hing an ihrem Gürtel. Tom hatte sie oben an der Wohnungstür abgeholt, ihr einen angewiderten Blick zugeworfen und das Gepäck hinuntergetragen.
»Tom! Was ist passiert?« Sie streckte die Hand aus, um sein Gesicht zu berühren. Er hatte ein blaues Auge, Schürfwunden an der Wange und offensichtlich eine gebrochene Nase.
»Nichts. Bist du fertig?«
»Nein, bin ich nicht! Wir können so nicht fliegen. Du musst ins Krankenhaus.«
»Die legen auch nur einen Eisbeutel drauf. Komm jetzt, lass uns gehen.«
»Die Nase ist gebrochen!« Daran konnte kein Zweifel bestehen. Er hatte schon immer eine Adlernase, zurückzuführen auf einen Bruch, den er sich als Kind beim Herumalbern mit John zugezogen hatte, doch nun war der Höcker noch ausgeprägter, aufgeschürft und rot. Auf seinem Jackett befanden sich eingetrocknete Blutspritzer.
»Na und? Hör zu, es ist mir gelungen, die beiden letzten freien Plätze für den Nachtflug zu ergattern. Wenn feststeht, dass wir abreisen, sollten wir die Maschine erwischen.«
»Es überrascht mich, dass du es so eilig hast.« Sie sah ihn an.
»Du hast gesagt, dass du nach Hause willst, Bernie. Ich pflege deine Wünsche ernst zu nehmen. Du wolltest nicht nach Doolin zurück, also lassen wir das.«
»Tom …« Sie berührte seinen Arm. Doch er zuckte zusammen, wich aus und schnappte sich ihr Gepäck.
Sie hatte den Schlüssel beim Loyola-Studienberater abgegeben, der im Haus wohnte, und stieg in das wartende Auto. Sie hatte befürchtet, einer der Kellys würde vor der Tür stehen, um sie zum Flughafen zu fahren, doch ihre Sorge erwies sich als unbegründet. Tom, dem genauso wenig daran gelegen war wie ihr, lange Erklärungen abzugeben, hatte ein Taxi organisiert. Vorsorglich und anonym.
Am Flughafen angekommen, gingen ihr unzählige Fragen durch den Kopf. Vor allem brannte sie darauf zu erfahren, was mit Tom passiert war, aber sie hatte Angst, ihn erneut darauf anzusprechen. Er war in den Waschraum gegangen und hatte Jackett und Hemd gegen ein blaues T-Shirt und eine schwarze Windjacke ausgetauscht. Als er zurückkam, sah sie, dass die Schwellung um Auge und Wange nach oben gewandert war; das Auge war beinahe geschlossen.
»Mit wem hast du dich geprügelt?«, fragte sie mit Nachdruck.
»Was spielt das für eine Rolle?«
»Mit Seamus? Du bist zu ihm gefahren, stimmt’s?«
»Ja, bin ich.«
»Warum hast du mich nicht mitgenommen?«
Tom warf ihr einen langen kühlen Blick zu. Wie sie zu ihrem Unbehagen feststellte, behandelte er sie neuerdings, als wäre sie Luft. »Weil ich mit ihm unter vier Augen reden musste«, erwiderte er ruhig. »Von Vater zu Sohn.«
»Wie hat er reagiert?«
Tom antwortete nicht, aber er runzelte die Stirn. Sein geschundenes Gesicht sprach Bände, und Bernie errötete.
»Hat er dich so zugerichtet?«
»Wir hatten eine kleine Meinungsverschiedenheit.«
»Warum?«
Sie sah, wie er um Fassung rang. Sie kannte Tom so lange und so gut, dass sie seine jeweilige Stimmung und oft auch seine Gedanken erriet, bevor er sie aussprechen konnte. Als sie merkte, wie sehr er sich bemühte, seine Gefühle unter Kontrolle zu halten, und ihr Blick wieder auf die Kratz- und Schürfwunden fiel, die Seamus ihm beigebracht hatte, senkte sie den Kopf und wartete bang auf seine Antwort.
»Warum? Weil er wütend ist. Er kann uns nicht verzeihen, was wir ihm angetan haben. Das ist doch verständlich, oder? Zur Adoption freigeben, ihn in ein Heim stecken, in dem er seine ganze Kindheit verbringen muss.«
»Aber das konnten wir doch nicht ahnen«, flüsterte Bernie. »Das war nie unsere Absicht. Wir haben uns ein Leben in einer liebevollen Familie für ihn gewünscht …«
»Das ist ihm versagt geblieben«,
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