Eine Frage des Herzens
die Karte mit geschlossenen Augen in der Hand und versuchte Kathleens Gegenwart zu erspüren. Es spielte keine Rolle, ob sie auf der anderen Seite des Atlantiks oder in Dublin lebte – Fakt war, dass er sie vor annähernd zehn Jahren das letzte Mal gesehen hatte. Sie nannte ihn immer noch James. Ihre Verbindung war abgerissen, vermutlich in dem Augenblick, als er sie beim Strandausflug zurückgelassen hatte, kurz bevor ihre Eltern kamen, um sie aus dem Heim zu holen.
»Das ist nicht real. Ich habe mir selbst etwas vorgemacht«, erklärte Seamus.
»Es ist real. Um dir das zu sagen, bin ich gekommen. Lass sie dir nicht entgleiten, Seamus. Mach nicht den gleichen Fehler wie ich. Wenn du sie so sehr liebst, wie du sagst, dann begib dich auf die Suche nach ihr.«
Seamus starrte stumm die Blutspritzer auf der Postkarte an.
»Ob du es hören willst oder nicht«, fuhr Tom fort, den Eisbeutel immer noch an Seamus’ Kopf gedrückt. »Deshalb haben deine Mutter und ich uns auf die Suche nach dir begeben. Weil wir dich lieben. Wir haben die Sache so gründlich versiebt, wie zwei Menschen es nur können, aber wir mussten dich suchen und es dir sagen.«
»Das ist nicht das Gleiche«, flüsterte Seamus. »Sie waren nicht Teil meines Lebens, Kathleen schon. Sie bedeutet mir alles. Wir waren alles füreinander …«
»Du hast recht, es ist wirklich nicht das Gleiche.«
Seamus nickte; er zitterte am ganzen Körper und wollte endlich allein sein. Als hätte Tom es gespürt, drückte er Seamus den Eisbeutel in die Hand.
»Du solltest ins Krankenhaus fahren, deine Hand versorgen lassen. Ich bringe dich hin, wenn du möchtest …«
»Nein danke. Das mache ich schon.«
»Dann gehe ich jetzt. Wir fliegen heute am späten Abend nach Connecticut zurück, deine Mutter und ich.« Er verstummte, und Seamus war außerstande, ihn anzusehen. Er spürte, dass sich Tom zurückhielt, sich jede weitere Bemerkung in diesem Zusammenhang verkniff. »Ich bin jedenfalls sehr froh, dich kennengelernt zu haben«, fügte er abschließend hinzu.
Seamus schwieg.
»Es gibt nichts, was mir jemals wichtiger war. Nichts.«
»Ja. Also dann …«
Tom ging zur Tür. Erst als er den Raum durchquert hatte, wagte Seamus seinen Vater anzuschauen. Ihre Blicke trafen sich. Toms Augen waren blau und klar und spiegelten ein Gefühl wider, das Seamus fremd war, das er nicht einmal zu benennen wusste.
»Such sie.« Toms Miene veränderte sich, wurde härter.
»Ich werde darüber nachdenken.«
»Ich lass dir das hier.« Tom griff abermals in seine Tasche und legte eine Karte auf die Konsole neben der Tür. »Das ist die Visitenkarte meines Cousins. Er kann dir über Nacht einen Reisepass besorgen. Wie du bereits sagtest, die Reichen finden immer einen Weg, an ihr Ziel zu gelangen.«
»Ich bin nicht reich. Ich könnte ihn nicht bezahlen.«
»Er würde kein Geld von dir nehmen. Wenn wir heute Abend abfliegen, weiß Sixtus Bescheid. Er wird deinen Anruf erwarten. Tu es, Seamus. Begib dich nach Newport auf die Suche nach Kathleen.«
»Was ist das?«, fragte Seamus, als er sah, wie Tom eine weitere Visitenkarte auf die Konsole legte.
»Das ist die Adresse von Star of the Sea. Die Telefonnummer gehört zu meinem Handy. Von Irland aus funktioniert das nicht, aber in den Vereinigten Staaten, sobald du dort bist. Ich bin dran, wenn du anrufst. Ich werde dir helfen, Kathleen zu finden.«
Das war’s. Tom ging noch mal zu ihm und reichte ihm zum Abschied die Hand. Seamus sah ihn an, und ihm fielen plötzlich tausend Dinge ein, die er ihm noch sagen wollte. Er hasste den Mann, der ihn nach der Geburt im Stich gelassen hatte, aber er verstand den Mann, der sich jetzt ihm gegenüber befand – er sah aus wie der Geist eines Menschen, der geliebt hatte, der eine Frau so sehr geliebt hatte, dass er bereit war, auf alles zu verzichten.
»Auf Wiedersehen, Seamus. Denk daran, deine Hand versorgen zu lassen.« Dann ging er zur Tür hinaus und verschwand.
Seamus hörte, wie er die Treppe hinunterlief, wie seine Schritte verklangen. Seltsamerweise ertappte er sich bei dem Gedanken, dass es schön gewesen wäre, von Tom ins Krankenhaus gefahren zu werden. Doch es war nur ein flüchtiger Gedanke, den er rasch verdrängte. Er war immer bestens alleine zurechtgekommen. Dennoch, es wäre schön gewesen, jemanden an seiner Seite zu haben, jemanden, der sich um ihn sorgte.
Kathleens Postkarte in der Hand haltend, lehnte er sich zurück und schloss die Augen. Die gebrochene
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