Eine Frage des Herzens
erwiderte Tom brüsk.
»Ich weiß.« Bernie dachte an das Treffen mit Schwester Theodore. Sie schilderte Tom in groben Zügen, was sie dabei erfahren hatte. »Inzwischen wird Schwester Theodore vermutlich die Generaloberin des Ordens verständigt und ihr gebeichtet haben, was Eleanor Marie ihm und Kathleen angetan hat.«
»Glaubst du wirklich, Bernie, das würde auch nur den geringsten Unterschied machen? Die Generaloberin weiß also Bescheid, na und? Was glaubst du, was sie tun wird? Eleanor Marie ihres Amtes entheben? Sie in eine Therapie schicken, damit sie das Trauma ihrer verkorksten Kindheit überwindet? Wen interessiert das schon, Bernie?«
»Tom.« Bernie war entsetzt über seinen Ton.
»Zwei Menschenleben wurden zerstört, Kathleens und das unseres Sohnes.«
»Ich weiß«, flüsterte sie.
»Ich habe ihm Kathleens Postkarte gebracht. Eine Postkarte, Bernie. Die Kindheit kann ihnen niemand zurückbringen, und es gibt auch keine zweite Chance, in einer Familie aufzuwachsen«, sagte Tom und starrte dann ins Leere. Sah er seinen Sohn als kleinen Jungen vor sich, wie er Basketball spielte, einen Angelausflug machte oder am Strand spazieren ging? Bernie kniff die Augen zusammen und sah die gleichen Bilder vor sich.
»Ich weiß.« Ihre Kehle war wie zugeschnürt. In ihrem Kopf drehte sich alles. Tom hatte sie unverzüglich ins Taxi verfrachtet, aber sich einverstanden erklärt, einen Abstecher zum Hotel zu machen, in dem Seamus arbeitete. Sie war ausgestiegen, zur Rezeption gegangen und hatte nach ihm gefragt.
Er war wie zu erwarten nicht da, und so hatte sie ihm eine Nachricht hinterlassen, von der sie jedoch nicht wusste, ob er sie annehmen würde, wenn er sah, dass sie von ihr stammte. Und Tom hatte ihr gerade erst erzählt, was passiert war. Was mochte er gedacht haben, als er sie am Empfangstisch stehen sah, wie sie mit leerem Blick die Reihe der Hotelfahrzeuge musterte? Mit klopfendem Herzen hatte sie an all die Fahrten ihres Sohnes gedacht, an all die Leute, die er zu Besichtigungstouren durch Irland mitgenommen hatte – und sie reiste ab, ohne ihm Lebewohl sagen zu können.
Sie sah Tom an und fragte sich, wie es so weit hatte kommen können – die Reihe der Verletzungen schien kein Ende zu nehmen, vielleicht unbeabsichtigt zugefügt, aber sie gingen ihr durch Mark und Bein. Sie hatte weinend im Hotel gestanden, und jetzt saß sie am Flughafen, stumm und ausgebrannt.
In diesem Augenblick knisterte es im Lautsprecher, und der Flug wurde aufgerufen. Ihre Sitze befanden sich hinten, im Heckbereich der Maschine. Sie reihten sich in die Schlange der Passagiere ein. Bernie fühlte sich wie betäubt, als sie sich schrittweise den Gang zum Flugzeug entlangbewegten. Sie zeigte Bordkarte und Reisepass vor und sah, wie Tom das Gleiche tat.
»Sir, alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte eine der Stewardessen beunruhigt. Toms Gesicht sah verheerend aus, er schwankte leicht, als wäre er immer noch benommen von den Schlägen, und hielt die Augen gesenkt, um nicht in die neugierigen Gesichter blicken zu müssen, als sie sich den Weg zum rückwärtigen Teil der Maschine bahnten.
Bernie sah, wie die Leute auf ihren Habit reagierten. Es war immer das Gleiche, wenn sie mit dem Flugzeug unterwegs war. Wildfremde sprachen sie an, baten sie, ihre Kinder zu segnen oder den Flug. Andere starrten sie an, einer Panik nahe; sie wusste, dass manche in der Anwesenheit einer Nonne ein unheilvolles Omen sahen. Als sie durch den schmalen Gang eilte, versuchte sie eine heitere, gelassene Miene aufzusetzen, um den Wirrwarr der Gefühle zu kaschieren, der in ihrem Innern herrschte. Sie war so aufgewühlt, dass sie einen Moment lang in Erwägung zog, wieder auszusteigen. Ihr Herz klopfte zum Zerspringen. Wenn die Leute sich doch klarmachen würden, dass Nonnen auch nur Menschen waren. Sie besaßen nicht mehr Antworten oder Kräfte als jeder andere, zeichneten sich nicht einmal durch größere Frömmigkeit aus. Als sie ihren Sitz in der letzten Reihe erreichte, war sie völlig am Ende und konnte Tom nur noch mit flehenden Augen ansehen.
»Warum fliegen wir zurück?«, fragte sie.
»Eine bessere Frage wäre: Warum sind wir überhaupt gekommen?« Er verstaute das Handgepäck in der Ablage über ihren Köpfen.
Sie saßen nebeneinander, Bernie auf dem Fensterplatz, Tom in der Mitte der Reihe. Der Platz am Gang war ebenfalls belegt. Der Mann, der ihn eingenommen hatte, nickte ihnen kurz zu und setzte dann eine Schlafmaske auf. Bernie
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