Eine Frau besorgen - Kriegsgeschichten
den ungeordneten Haufen der kleinen Häuser, deren Stirnseiten bemalt waren, die grauen Ställe am Ende der Gärten, die notdürftig zusammengezimmerten Scheunen, die halbvollen, schiefen Maisspeicher, die Gleichförmigkeit der Misthaufen. Er fand, daß das Ganze schön sei, schön und entsetzlich, entsetzlich und ergreifend. Hier leben, wie der Schnee. In der einen Jahreszeit bist du, in der anderen wartest du im Nichts. Er spuckte aus und ging weiter. Die Siedlung war ausgestorben. Die Häuser standen auf winzigen, staubigen Grundstücken, die halbblinden Fenster, die Türen mit ihren schiefen Rahmen, die engen Toreinfahrten starrten einander an, und im Zentrum des Blickfelds ragte ein blankes Holzkreuz in die Höhe. Ich blieb stehen. Langsam ließ er seine Reisetasche in den Staub gleiten. Er putzte sich umständlich die Nase und trat näher. Ein verirrter Lichtstrahl durchbrach den schimmeligen Nebel. Mit einem herben Blinzeln betrachtete er das zusammengeschusterte Gebilde. Das Kreuz zitterte schmutzigblau im Licht. Er blinzelte eine ganze Weile, schließlich verlor er die Geduld.
»Na, was ist!«
Und wie ein gestern verlorener Klotz im Wasser eines morgendlichen Sees, erschien in dem Strahlen auf einmal die Gestalt des Gekreuzigten, sein seitwärts geneigter Kopf, die klassische Körperhaltung. Er war es, von ihm hatte der Handelsvertreter gesprochen. Auf der Stirn eine Dornenkrone, der Bauch aufgetrieben und tonnenförmig, wie bei Hungernden. Die Glieder waren dünn und zart. Zwischen seinen geschwollenen Lippen sickerte blutiger Schaum hervor. Sein Blick war unruhig, entschlossen, ermutigend. Ja, es war tatsächlich das Gesicht von Jesus Partisan.
Der Ort, wo man steht, um den weiß man, dachte Baum.
Ich dachte, wohin wir sehen, dort sind wir zu Hause. Der Gekreuzigte war nackt. Sein Geschlecht schien angeschwollen. Baum sah die großen, schwarzen Nägel in den Händen, und er sah auch, daß die Unterschenkel gebrochen waren. Als hätte sich alles vorschriftsgemäß zugetragen. Nein, er ist nicht zu Hause. Hier ist Schnee, Warten auf den Frühling, Schnee, Schnee, Schneien.
»Gibt es einen Bund?« fragte Baum, der unter dem Kreuz stand.
Ein Wind erhob sich. Ein bunter Schal schien von der grauen Erde aufgewirbelt zu werden.
»Gibt es einen Bund?«
»Guten Tag«, sagte schließlich jemand hinter ihm. Er mußte sich notgedrungen umdrehen. Er wußte, daß ihm der Anblick des Geopferten nun verlorengehen würde, denn daß er ein Opfer zu Gesicht bekommen hatte, dessen war er sicher. Baum hatte keine Träume, er vergaß sie regelmäßig. Er hatte nie Angst, dazu blieb ihm keine Zeit. Er gehörte zu jener kleinen Gruppe Menschen, die sich nach der Angst sehnen, nach ihrer Genauigkeit, aber seine Einbildungskraft war so groß, daß er immer, wenn er es mit Angst oder Beklommenheit versuchte, sich sogleich etwas auszudenken begann. Die Angst denkt sich nichts aus, denn sie ist Mittelpunkt, Zentrum.
»Guten Tag«, hörte er nochmals.
Das Mädchen hatte kurzes Haar, wie ein Junge. Ihre großen tiefblauen Augen sahen ihn durchdringend an, immer wieder verirrte sich ihre Zungenspitze zu einer schorfigen, dunklen Wunde auf der Lippe. Baum hielt ihrem Blick einige Augenblicke stand, dann sah er weg. Ich erwiderte den Gruß nicht. Wolken schoben sich wieder vor die Sonne. Eine bleiche Scheibe bewegte sich über den Himmel. Nun sah Baum auch die braunen Flecken auf dem Kreuz, prächtige Blutflecken, dunkle Schmuckstücke. Das gestreifte und gesprenkelte Muster auf dem groben Balken hielt den Augenblick fest, als das Blut verspritzt wurde und langsam abwärts zu rinnen begann.
»Wer sind Sie?« fragte das Mädchen.
»Ich heiße Baum«, sagte ich.
»Woher kommen Sie?«
»Hier aus der Gegend«, knurrte ich. Vielleicht lächelte das Mädchen, vielleicht blickte es gedankenverloren in die Richtung, in die Baum gedeutet hatte. Vielleicht rührte es sich gar nicht. Dort lagen Felder, auf denen Kohl, rote Rüben und Sonnenblumen angebaut wurden. Man kann tagelang gehen und ist noch immer in der Gegend.
»Wer sind Sie?«
»Ein Dokumentar.«
»Detektiv?«
»Ich merke mir die Dinge.«
»Sie können wirklich das Wesentliche vom Unwesentlichen unterscheiden?«
»Mich interessieren vor allem die Opfer.«
»Was war er Ihrer Meinung nach, Täter oder Opfer?«
Ich schwieg.
»Ihre Stimme klingt wie aus einem Brunnen«, sagte das Mädchen. Baum wandte sich mit einer heftigen Bewegung um. Er hatte das Gefühl, daß man
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