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Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman

Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman

Titel: Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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meiner ruhigen Unruhe paßten. Ich sah auf die Straße hinunter, die um diese Zeit noch fast menschenleer war. Gerade dämmerte der Tag. An der gegenüberliegenden Häuserzeile ging die Zeitungsausträgerin entlang. Sie zog einen Kinderwagen hinter sich her, der bis oben hin mit frischen Zeitungen gefüllt war. Die Räder des Kinderwagens brachten ein wimmerndes Quietschen hervor, das auf wunderliche Art in die Suite von Berg eindrang. Manchmal ließ die Frau ihren Schlüsselbund zu Boden fallen. Obwohl die Frau dick war, bückte sie sich leicht und schnell. Jetzt öffnete sie eine Flasche Bier. Sie trank im Frühdämmer und schaute dabei die toten Hauswände entlang. Ich merkte, die Bilder sprachen in mich hinein. Die ersten Schwalben flirrten durch die Straße; um diese Zeit sahen sie noch wie Fledermäuse aus. Die Zeitungsausträgerin versenkte die halbleere Bierflasche in einer Ecke des Kinderwagens. Dann verschwand sie hinter einem Wohnblock, ich konnte sie für eine Weile nicht sehen. Kurz darauf zog Frau Meixner vom Obst- und Gemüseladen gegenüber die Rolläden hoch. Kaum war der Laden geöffnet, sprang Frau Meixners Hund auf die Straße hinaus. Es war ein kleiner schwarzer Hund, der den ganzen Tag entweder aus dem Geschäft hinaus- oder in das Geschäft hineinlief. Draußen oder drinnen blieb er eine Weile liegen, dann sprang er wieder auf. Die Unruhe des Tieres machte mich ein wenig verzagt. Wenn ich als Kind verzagt war, ging ich durch die Wohnung und öffnete alle Schubladen. Ich griff mit der Hand in die geöffneten Schubladen und wühlte wahllos in den Dingen. Schon bald endete die Verzagtheit und es begann die Beschäftigung mit einem Gegenstand. Mir fiel ein, daß ich zur Zeit keinen Schrank und deswegen auch keine Schubladen hatte. Die Zeitungsausträgerin kam hinter dem Wohnblock hervor. Der Kinderwagen war jetzt so gut wie leer. In der linken Hand hielt die Frau die Bierflasche, Frau Meixners Hund sprang herbei. Die Zeitungsausträgerin ließ sich auf einem Betonsockel nieder und ruhte aus. Der Hund war nicht aggressiv, nur nervös und neugierig. Die Frau hob sich die Flasche an die Lippen und trank. Es war mir nicht recht, daß der Hund vor der Frau stehenblieb und sie fixierte. Ich fürchtete, die Frau könne sich herausgefordert oder beleidigt fühlen. Aber die Frau vertrieb den Hund nicht. Mit langen Zügen trank sie die Flasche leer und schaute dann auf den Boden. In einem Zimmer im Haus gegenüber flammte gelbes Licht auf und beleuchtete eine kleine Bibliothek. Ein älterer Mann im Schlafanzug betrat das Zimmer und suchte nach einem Buch. Der Anblick der Bücher machte alle Einzelheiten heimisch und zusammengehörig. Das Halbdunkel, die Fremdheit, die Bierflasche, die Stummheit, die Frau, der Hund, alles gehörte in die Welt. Vermutlich fühlte sich die Zeitungsausträgerin nicht beleidigt, ich hatte nur phantasiert. Ich konnte mich kaum vom Fenster trennen. Der Mann im Schlafanzug zog ein Buch aus einem Regal und knipste das Licht aus. Die Zeitungsausträgerin wischte sich den Mund ab, erhob sich und ging zum Straßenrand. Die leere Bierflasche ließ sie in ihrer Jackentasche verschwinden. Der Hund von Frau Meixner rannte zurück in den Laden. Am Straßenrand hielt ein Auto, ein junger Mann stieg aus und hob den Kinderwagen in das Auto. Vermutlich war der junge Mann der Sohn der Zeitungsausträgerin. Die Frau setzte sich auf den Beifahrersitz und wartete. Der Lärm auf der Straße wurde jetzt stärker. Der junge Mann fuhr mit der Zeitungsausträgerin davon. Hinter den Dachfirsten schob sich ein neuer Tag hervor. Ich hatte höchstens noch fünf Minuten Zeit. Ich war heute für die Entladung von sieben Waggons verantwortlich. Im Waschbecken der Toilette spülte ich die Kaffeetasse aus und stellte sie auf das Fensterbrett. Kurz darauf verließ ich die Wohnung. Ich fuhr direkt zur Außenstelle des Arbeitsamtes und engagierte acht Tagelöhner.
    Zwei Tage später war Wochenende. Am Sonnabend mußte ich nicht arbeiten. Ich erwog, meine Eltern zu besuchen, kam dann wieder davon ab. Es war sonderbar, mit den Eltern in der gleichen Stadt zu leben und sie nicht sehen zu wollen. Der Tag war leicht und hell und warm. Ich beschloß, in einem Terrassen-Café in der Innenstadt zu frühstücken. Die Straßen wimmelten von Menschen und Tönen und Anblicken. Vor mir ging eine ältere Frau. Am Absatz ihres linken Schuhs war ein Stück braunes Klebeband hängengeblieben, was die Frau nicht zu bemerken schien,

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