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Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman

Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman

Titel: Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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dahin mußte ich die Kühnheit haben, meine Zeit zu vergeuden und mich selber in der vergehenden Zeit zu belauschen.
    Seit ich Vorarbeiter geworden war, ließ mich der Prokurist in Ruhe. Es beobachtete mich niemand mehr. Wenn ein Waggon entladen oder beladen war, verkroch ich mich eine Weile hinter Kisten und Kartons und sann den Bildern nach, die ich gesehen hatte. Ich mußte nicht (wie im Büro) so tun, als sei ich in jedem Augenblick beschäftigt. Die Anwerbung von Tagelöhnern verlor ihren Schrecken. Meistens gelang es mir, die Melancholie des Auswählens zu umgehen. Ich betrat den Wartesaal der Tagelöhner und sagte zu den erstbesten Männern, wo sie zu erscheinen hatten. In weniger als zwei Minuten waren die Anwerbungen beendet. Ich gewöhnte mich an die Vorgänge wie an das Bild einer Katze, die eines Morgens in Halle A erschien. Jemand hatte dem Tier die Ohren abgeschnitten. Die Arbeiter liefen davon, als sie die Katze zum ersten Mal sahen. Aber dann erschien die Katze jeden Morgen, und die Arbeiter wandten sich nicht mehr ab. Ein Gabelstaplerfahrer stellte ein Schälchen Milch hin, die Katze trank, und die Arbeiter vergaßen, daß die Katze einmal Ohren gehabt hatte.

8
    Eine knappe Woche später machte ich mich in der Mittagspause auf dem Weg zum Tagesanzeiger, um Herrdegen meinen Entschluß mitzuteilen. Inzwischen war Hochsommer geworden. Auf der Straße herumliegende Lindenblüten rochen ein wenig faulig, fast wie stehengebliebener Senf. Es war wenig Verkehr, ein Teil der Geschäfte hatte wegen Urlaubs geschlossen. In der gesamten Redaktionsetage waren die Fenster geöffnet. Deswegen konnte ich schon auf der Straße Herrdegens Schreibmaschinengeklapper hören. Die Hitze hatte die gebohnerten Holzböden in der Redaktion ein wenig schlierig, fast glitschig gemacht. Die in den Faszikeln abgehefteten Zeitungen rochen säuerlich. Fräulein Weber war in der Mittagspause. Ich durchquerte das Sekretariat und klopfte bei Herrdegen.
    Ich störe Sie nicht lange, sagte ich.
    Herrdegen unterbrach das Tippen.
    Sie stören nicht, sagte er; bringen Sie mir was?
    Heute nicht, sagte ich.
    Sie wollen mir sagen, daß Sie zu uns kommen werden, sagte Herrdegen.
    Ja, sagte ich, das heißt nein.
    Herrdegen sah mich an.
    Also noch einmal, sagte er, wollen Sie bei uns Volontär werden oder nicht.
    Während er redete, tippte er zwischendurch ein paar Sätze, was mich immer noch beeindruckte.
    Sie wollen nicht zu uns kommen, sagte er dann. Sie wollen Ihr Studium beenden.
    So ist es, sagte ich, ich hoffe, Sie haben Verständnis.
    Aber ja, machte Herrdegen; wie lange brauchen Sie noch?
    Drei Jahre mindestens, sagte ich.
    Der Tagesanzeiger läuft Ihnen nicht davon, sagte Herrdegen.
    Das ist gut zu wissen, sagte ich und wunderte mich über meine Gestelztheit. Ich würde gerne als freier Mitarbeiter weiter für Sie schreiben, abends und am Wochenende, so wie zuvor.
    Hier hab ich was für Sie, sagte Herrdegen und zog aus der Terminmappe einen Einladungsbrief hervor. Am Samstag morgen wird eine Minigolf-Anlage eingeweiht. Wollen Sie das machen?
    Gerne, sagte ich und nahm die Einladung.
    Bitte dreißig Zeilen, sagte Herrdegen.
    Keine mehr und keine weniger, antwortete ich mit einer Spur Zynismus in der Stimme, die Herrdegen bemerkte und sofort überging. Er spannte ein neues Blatt Papier in seine Schreibmaschine. Das war das Zeichen, daß das Gespräch beendet war. Im Treppenhaus ärgerte ich mich über meinen Hochmut. Herrdegen hatte es nicht verdient, daß ich ihm gegenüber zynisch wurde. Die Vorstellung, daß der Tagesanzeiger ohne mich auskommen mußte, machte mich ein bißchen zufrieden. Sofort empfand ich die Merkwürdigkeit dieses Glücks. Ich trug es ein bißchen mit mir herum, bis es an seiner eigenen Schwerverständlichkeit zugrunde ging.
    Die Minigolf-Anlage lag im Eingangsbereich eines Freibads, das erst im vorigen Jahr eröffnet worden war. Die Sonne schien, eine kleine Kapelle spielte, von allen Seiten strömten die Leute herbei. Der Bürgermeister für Sport und Soziales zupfte an seinem Anzug, gleich würde er ein paar Worte sagen. Von der Lokalpresse war außer mir nur Frau Finkbeiner von der Allgemeinen Zeitung und Frau Zimmerling von der Volkszeitung da. Wir begrüßten uns und stellten uns in die Nähe des neuen Kassenhäuschens. Eine junge Dame von der Stadtverwaltung erschien mit einem Tablett und bot Käsehäppchen mit Oliven und Radieschen an. Der Bürgermeister beglückwünschte die Stadt und ihre Einwohner. Ich

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