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Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman

Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman

Titel: Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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des Geschäftes beim Arbeiten zuzuschauen. Die meisten Mädchen erkannten schnell, daß die Blicke ihnen galten, und viele von ihnen schauten interessiert zurück. Danach genügte es, eine oder zwei Wochen später nach Feierabend am Angestelltenausgang zu warten und eines der Mädchen anzusprechen. Viele ließen sich gerne nach Hause begleiten und wiesen den Wunsch nach einer Verabredung nicht zurück. Auf diese Weise hatte ich, teilweise noch als Schüler, eine Pelzverkäuferin, eine Drogistin und eine Schuhverkäuferin kennengelernt. Allerdings ging mein Interesse an diesen Mädchen genauso schnell zurück, wie es entstanden war. Oft war ich froh, wenn wir an der Haustür angelangt waren und ich mich verabschieden durfte. Jetzt war eine neue Situation eingetreten. Ich stand noch immer unmittelbar vor Ingrid und konnte mich doch nicht mit ihr verabreden, weil ihr Vater mein Vorgesetzter war. Es kam noch schlimmer. Der Pausengong ertönte, der Prokurist faßte Frau und Tochter an den Armen und führte sie zurück in den Zuschauerraum. Von Ingrid hatte ich nicht das kleinste Anzeichen dafür erhalten, ob sie eine Annäherung von mir wünschte oder nicht.
    Am Montag morgen bildete ich mir ein, daß unser zufälliges Zusammentreffen im Theater die Art des Kontakts zwischen dem Prokuristen und mir verändert hatte. Ich glaubte, nachdem der Prokurist mir ein paar Familienanekdoten erzählt hatte, könnte er mich nicht mehr mit seiner Schreibtischklingel zu sich rufen. Aber ich hatte mich geirrt. Kurz nach neun Uhr (Frau Dieterle aus der Buchhaltung erklärte mir gerade die Hollerith-Maschinen) hörte ich die Klingel. Auch Frau Dieterle war darüber verärgert. Trotzdem mußte ich sie stehenlassen und ins Zimmer des Prokuristen eilen. Der Prokurist zupfte sich an der Nasenspitze und bat mich, Platz zu nehmen. Immerhin, das war neu. Bis zu diesem Tag hatte ich mir seine Mitteilungen im Stehen anzuhören.
    Wir brauchen Sie in Halle B, sagte der Prokurist, aber nicht mehr am Sackkarren, sondern als Vorarbeiter. Sie werden in Zukunft, zusammen mit den Vorarbeitern Tenbrink, Kaindl und Steinbrenner, den gesamten Verladebetrieb leiten. Sie wissen ja schon ungefähr, wie das geht.
    Ich nickte.
    Sie besorgen sich frühmorgens die Ladelisten, dann gehen Sie in die Arbeiterkantine und holen sich die Leute, die Sie zum Entladen brauchen. Ihre Hauptaufgabe ist: Sie müssen feststellen, ob sich die Sachen auf den Ladelisten auch tatsächlich in den Waggons befinden. Und Sie müssen den Arbeitern sagen, in welche Halle und auf welchem Platz sie das Stückgut abstellen sollen. Das ist alles. Das haben Sie alles schon hundertmal gemacht.
    Stimmt, sagte ich.
    Am besten ist, Sie verständigen sich jeden Abend mit Herrn Graf darüber, wieviel Waggons am nächsten Morgen hereinkommen. Dann können Sie abschätzen, wieviel Leute Sie brauchen werden.
    Ja, sagte ich.
    Jetzt kommt etwas Neues, passen Sie auf. Immer mal wieder haben wir zuwenig Verladearbeiter. Wenn Sie abends das Gefühl haben, daß am nächsten Morgen zuwenig Arbeiter dasein werden, gehen Sie morgens um acht zur Außenstelle des Arbeitsamtes im Osthafen. Dort sitzen jeden Morgen eine Menge Tagelöhner herum. Unter ihnen wählen Sie die Leute aus, die Sie haben wollen. Können Sie das?
    Ich hab’s noch nie gemacht, sagte ich.
    Sie haben auf zwei Dinge zu achten, sagte der Prokurist. Erstens müssen die Männer jung und kräftig sein. Zweitens dürfen sie nicht angetrunken sein. Sie können das ganz leicht feststellen. Nähern Sie sich kurz den Gesichtern, dann wissen Sie Bescheid. Sie riechen es, verstehen Sie?
    Ja, sagte ich.
    Sie brauchen mit den Männern nicht zu verhandeln. Es sind Tagelöhner. Wenn Sie jemanden haben wollen, drükken Sie ihm ein Blatt Papier in die Hand, auf dem unsere Adresse steht und die Höhe das Stundenlohns. Die Papiere kriegen Sie von mir. Wenn ein Tagelöhner mitgeht, muß er das Papier unterschreiben und es Ihnen zurückgeben. Das ist alles. Morgen früh werde ich die Arbeiter aussuchen. Ich möchte, daß Sie mitgehen. Ich will Sie mit den Einzelheiten vertraut machen und Ihnen den Chef der Außenstelle vorstellen. Am besten ist, Sie kommen morgen früh eine halbe Stunde eher. Dann fahren wir zusammen los.
    Der Prokurist erhob sich und preßte die Lippen zusammen. Ich verstand, die Unterweisung war beendet, der Prokurist hatte wenig Zeit. Am folgenden Morgen erschien ich pünktlich um halb acht im Büro. Der Prokurist saß schon im Auto und ließ

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