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Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman

Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman

Titel: Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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Tagelöhner waren gut bei Kräften und arbeiteten zügig. Gegen 11.00 Uhr war der Nürnberger Waggon entladen. Ich war jetzt eine Art Oberarbeiter oder Chefarbeiter oder Arbeiterchef geworden. Schon auf der Rückfahrt ins Büro hatte mir der Prokurist eine beträchtliche Erhöhung meiner Bezüge angekündigt. Sie sind zwar Lehrling, aber ich bezahle Sie wie einen Vorarbeiter, hatte er gesagt. Die entscheidendere Veränderung betraf die Arbeit selber. Seit Montag war ich davon befreit, mich selbst körperlich verausgaben zu müssen. Ich stand jetzt mit einem Bleistift in der Hand an den geöffneten Schiebetüren der Waggons und dirigierte die Arbeit der anderen. Seit Montag verließ ich die Firma nicht mehr so erschöpft und staubig wie in den Monaten zuvor. Am Donnerstag sollte ich zum ersten Mal allein in die Außenstelle des Arbeitsamtes fahren und dort acht Tagelöhner auswählen. Ich stellte mir vor, daß der Mann mit dem gelblichen Brillengestell, der wegen mangelnder Sehkraft nicht ausgewählt worden war, dann wieder in der Wartehalle sitzen würde. Ich überlegte, ob ich ihn doch mitnehmen und ihn vor dem Prokuristen verheimlichen sollte. Der Prokurist erschien nicht in den Hallen, um meine Arbeit zu kontrollieren. Allerdings schaute er zuweilen von seinem Bürofenster herunter auf die Laderampen, auf denen die Arbeiter mit den Sackkarren hin- und hergingen. Vermutlich hatte ich keine Wahl, ich mußte junge und gesunde Männer nehmen. Ich wurde wieder wankelmütig. Obwohl ich schon fast entschlossen war, Herrdegens Angebot abzulehnen, wurde ich erneut unsicher. Es drängte mich nicht, ein elender Arbeiter zu sein, der noch elendere Arbeiter für brauchbar oder nicht brauchbar befand. Es verlangte mich aber auch nicht danach, beim Tagesanzeiger mehr und mehr zu verdünkeln und am Ende in meinem eigenen Hochmut unterzugehen. Ich nahm mir vor, nach Feierabend in aller Ruhe über mein Problem nachzudenken. Ich durchquerte die Stadt und geriet in die Nähe des Flußufers. Hier, dachte ich, kannst du dein Problem ungestört auseinandernehmen und dann eine Entscheidung treffen. Ich sah auf den Fluß und dachte nach, aber es kam nicht viel dabei heraus. Ich wiederholte immer nur, was ich nicht wollte. War das schon nachdenken? Die nicht nachlassende Befragung meines Lebens machte mich nur frühzeitig müde. Auch diese Müdigkeit verstand ich nicht. Du bist doch erst achtzehn, fragte ich mich, warum bist du so müde? Gab es eine Krankheit namens Jugenderschöpfung, die ich soeben kennenlernte? Ich wußte nicht, was ich immerzu bedenken sollte. Genau das hätte ich bedenken sollen. Einmal lenkte mich ein Mann ab, der sein Fahrrad ins Wasser warf. Ich überlegte kurz, ob der Mann nur wütend war oder ob er das Fahrrad gestohlen hatte und es jetzt wieder loswerden wollte. Das Fahrrad ging sofort unter, der Mann eilte zurück in die Stadt. Ein Frachtschiff kam näher. Es war ein langer, schwarzgestrichener Schlepper, der langsam flußaufwärts bollerte. Aus jeder Ladeluke ragte die Spitze eines Kohlehaufens heraus. Ein kleiner Hund saß in der Nähe des Führerhauses und bellte zum Ufer herüber. Eine junge Frau rückte neben einem Kinderwagen einen Stuhl zurecht. Die Frau griff mit beiden Händen in den Kinderwagen und holte einen Säugling heraus. Sie öffnete sich die Bluse und legte sich das Kind an die Brust. Als das Schiff an mir vorübertuckerte, konnte ich sehen, wie die Frau zwischen Zeigefinger und Mittelfinger ihre Brust hielt. Beide Finger bildeten zusammen eine geöffnete Schere, die die Brust steuerte und sie dem Kind so hinhielt, daß das Saugen leichtfiel. Das Bild des weißen Kindskopfes und der weißen Brust genau neben einem schwarzen Kohlehaufen war zum Niedersinken. Es ergriff mich eine erhabene Stimmung, die ich nicht abwehrte. Schon war das Schiff vorüber. Von der stillenden Frau sah ich nur noch den nach vorne gebeugten Oberkörper. Ich merkte, daß das gequälte Gefühl in mir langsam verschwand. Außer einem Schülerliebespaar war hier niemand. An der Ufermauer standen ein paar fahle, schon abgeblühte Sonnenblumen. Ich stapfte zwischen Butterblumen, Hasenklee und Springkraut umher und betrachtete das Leben der Kleintiere. Zitronenfalter und Kohlweißlinge ließen sich auf Taubnesseln und Löwenzahn nieder, kleine rote Käfer kämpften sich an den haarigen Stengeln von Brennesselsträuchern in die Höhe. Sogar Libellen mit hellblauen Flügeln, offenbar vom Wasser angezogen, flitzten umher.

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