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Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman

Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman

Titel: Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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einem Pappschild zu Füßen der Staffelei. Rings um den Holzverschlag lehnten ein paar fertige Bilder. Sie kosteten zwischen fünf und acht Mark. Tatsächlich überlegte ich, ob ich für meine Wohnung ein Bild kaufen sollte, aber dann fiel mir ein, daß ich nicht wußte, wie man einem Mann ohne Arme und ohne Finger ein paar Mark überreichen sollte. Während der Betrachtung des Mundmalers hatte sich meine Erschütterung aufgelöst. Das heißt, ich war erstaunt darüber, wie rasch unangenehme Gefühle verschwanden, wenn man nur die Schauplätze und Anblicke wechselte.
    Mutter sah zur Seite und Vater erschrak, als ich zu Hause sagte, daß ich zum Monatsende ausziehen würde. Als ich Kind war, hat mir eine Weile die Sorgfalt gefallen, mit der Vater die Seife im Waschbecken aufbrauchte. Auch das letzte Fitzelchen Seife bewegte er so lange zwischen den Fingern, bis nichts mehr übrig war. Dann aber fürchtete ich mich immer öfter davor, daß Vater nach der Mutter auch mich so lange zwischen seinen Fingern reiben würde, bis er seine Familie völlig aufgelöst hätte. Aber jetzt, durch die Ankündigung meines Verschwindens, war ich plötzlich ein bewegliches Etwas geworden, das ihm lebend aus den Händen gesprungen war. Seit ich als Lehrling arbeitete, mußte ich die Hälfte meines Lehrlingsgehalts zu Hause abgeben. Vermutlich fürchtete Vater, daß mit meinem Auszug auch mein Beitrag zur Haushaltskasse ausfallen würde. Ich sah seinen Schrecken, den er auszusprechen nicht wagte. Deswegen war er sogleich freudig überrascht, als ich zusicherte, daß ich auch nach meinem Auszug die Familie weiter unterstützen werde. Vater traute sich nicht, sich nach meinen finanziellen Verhältnissen zu erkundigen. Wahrscheinlich wartete er darauf, daß ich selbst davon anfing, aber ich fing nicht davon an. Zum ersten Mal war er es, der zwischen uns zum Opfer eines Schweigens wurde. Als er sich wieder gefangen hatte, bot er mir an, als Gegenleistung für die Weiterzahlung meines Haushaltsbeitrags könne ich jede Woche meine schmutzige Wäsche bei Mutter abgeben. Mutter schwieg dazu, sie sah mich nur kurz an. Ich fragte mich, ob Mutter, als sie jung gewesen war, eher sensibel war und erst unter dem Einfluß ihres Ehemannes ein wenig derb werden mußte, oder ob sie schon in ihrer Jugend unzart war und deswegen auch einen entsprechenden Mann geheiratet hatte. Aber dann rief ich mich zur Ordnung und sagte zu mir: Dieses ganze Elterngerümpel wird dich in der neuen Wohnung nicht mehr belästigen.
    Der Einzug in mein Appartement dauerte etwa zweieinhalb Stunden. Mein Bett und ein wenig Bettwäsche durfte ich von zu Hause mitnehmen. Von Frau Finkbeiner übernahm ich einen Tisch und einen Stuhl und die Gardinen am Fenster. Meinen Plattenspieler stellte ich auf den Boden, die Platten lehnte ich gegen die Wand. Weil ich mich davor fürchtete, zuviel Geld auf einmal auszugeben, richtete ich die Küchennische nicht ein. Für das Frühstück kaufte ich mir lediglich einen Wassertopf und einen Tauchsieder. Auch auf die Anschaffung eines Schranks verzichtete ich. Meine Kleidungsstücke gefielen mir ohnehin besser, wenn ich sie im Türrahmen hängen sah. Dort schauten sie bedeutsam aus und gaben mir das Gefühl des Aufbruchs. Am tiefsten beeindruckte mich, daß ich vom Bett aus meinen Arbeitstisch sehen konnte. Das Halbdunkel und die Stille am frühen Morgen stimulierten mich. Der Anblick des Sakkos (zerknittert), des Hemdes (verschwitzt), der Hose (staubig), der Erdreste an den Schuhrändern und der Schreibmaschine auf dem Tisch machte mich wortlos und zufrieden. Es war, als könnte ich meinem eigenen Blick dabei zuschauen, wie er aus einer bloßen Ansammlung von Gegenständen eine wunderbare Verschwisterung der Dinge machte: ein Mysterium mit mir selber in der Mitte. Jetzt sah ich auf meine Unterwäsche und die Strümpfe, die ich lose auf die Bücherregale verteilt hatte. Es geschah nichts, ich fühlte die Erregung eines neuen Lebens. Ich war momentweise sicher, daß in diesem Zimmer, an diesem Tisch und an dieser Schreibmaschine mein Roman losgehen würde. Es beunruhigte mich nicht, daß ich vorerst nur Artikel für den Tagesanzeiger zustande brachte. Ich wusch mich oberflächlich, machte mir eine Kanne Kaffee, setzte mich an den Tisch und suchte nach Wörtern. Nein, ich suchte nicht, ich lauschte und lauerte. Ich legte eine Platte mit der »Lyrischen Suite« von Alban Berg auf. Es waren kurze, ausdrucksstarke, leicht verzitterte Stücke, die gut zu

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