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Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman

Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman

Titel: Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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Winzigen Eidechsen gelang es, mich weiter von meinem Problem abzubringen. Die Eidechsen kletterten auf erhitzten Steinen umher. Es war leicht, nahe an sie heranzukommen. Es entzückte mich die Art, wie sie ihr kleines Maul aufklappten und langsam kauten. Am Halsende ihres Unterkiefers beobachtete ich ein gerade noch erkennbares Pulsieren, ein stetiges Auf und Ab eines schillernden Hautflecks. Das friedliche Beieinander von Pflanzen, Tieren und Menschen erinnerte mich an den Religionsunterricht in der Grundschule. Ein Buch mit schönen Geschichten sollte uns damals helfen, Gott und das Paradies zu begreifen. In diesem Buch gab es wunderbare Zeichnungen über das Zusammensein von Tieren und Menschen. Besonders diese Zeichnungen gefielen mir sehr, über viele Jahre hin betrachtete ich sie immer wieder. Riesige Löwen lagen ausgeruht neben Familien im Gras. Schöne Rehe streiften vorüber und schauten jungen Mädchen beim Kämmen zu. Leoparden machten zusammen mit bedächtigen Greisen ein Picknick. Ein Eisbär beugte sich über einen Säugling und zerriß ihn nicht. In den Texten zu den Bildern hieß es, daß es einen so vollkommenen Frieden zwischen allen Lebewesen erst geben werde, wenn das Reich Gottes angebrochen sei. Obwohl ich als Achtjähriger nicht wußte, was das Reich Gottes sein sollte, glaubte ich an die Bilder. Ich fing an, von Zeit zu Zeit an das Flußufer zu gehen und nachzuschauen, ob das Reich Gottes schon angebrochen sei. Aber jedesmal, wenn ich hierherkam, sah ich entweder gar nichts oder nur ein paar ältere Jungs, die mit Schleudern auf Spatzen schossen oder Strohhalme in die Bäuche von Fröschen stießen, um sie aufzublasen, bis sie irgendwann platzten. Das sah nicht nach Frieden aus, im Gegenteil, das war der gewöhnliche Krieg, den ich schon lange kannte. Plötzlich hörte ich das Motorengeräusch eines anderen Schiffes. Es war ein Vergnügungsdampfer, der langsam flußaufwärts fuhr. Er war vollbesetzt mit Tagesausflüglern, von denen mir einige zuwinkten. Ein paar Sekunden lang genierte ich mich, dann winkte ich zurück. Die Menschen saßen dichtgedrängt auf dem offenen Deck. Das Bild war so stark wie der endlich ausgebrochene Gottesfriede. Ich winkte und winkte und überlegte, warum das Vorüberziehen eines mit Menschen vollbeladenen Schiffes schön war. Die Schönheit ging entweder aus der gleichmäßigen Bewegung hervor, mit der das Schiff dahinglitt. Oder sie entflatterte aus den bunten Fähnchen über den Köpfen der Passagiere. Sie konnte freilich auch den sanften Wellen entspringen, die sich rechts und links des Bugs aufwarfen und still zu den Ufern hin entkamen. Es war auch möglich, daß sie aus dem weich bollernden Motorengeräusch hervorging. Der fünfte Grund beeindruckte mich am tiefsten. Danach war die Schönheit eine Art Gemeinschaftswerk der Passagiere. Sie entstieg der ruhigen Freude derer, die ohne Eile ihre Zeit vergeudeten. Ich winkte den Fahrgästen immer noch, jetzt mit dem Entzücken von jemand, der über die Gründe der Schönheit gut Bescheid zu wissen schien. Als das Schiff schon fast vorübergezogen war, sprang der Wunsch nach souveräner Zeitverschwendung auf mein eigenes Empfinden über. Ich hatte ein inneres Erlebnis, für das ich keine Worte hatte. Die Eingebung war stark, weil sie zum richtigen Zeitpunkt eintraf: Ich durfte mich zu meinem Leben als ein Lauschender verhalten. Ich durfte so lange in die Wirklichkeit hineinhören und hineinsehen, wie ich nur wollte. Beim Belauschen der Dinge und Ereignisse wurde ich nicht hochmütig. Aus Dankbarkeit ging ich eine Weile neben dem Schiff her. Ein paar Kinder auf dem hinteren Deck lachten über den Mann, der auf dem Uferweg neben dem Schiff herlief wie neben einer Straßenbahn. Ich nahm mir vor, bei nächster Gelegenheit eine kleine Erzählung über mein Erlebnis zu schreiben. Erst das dichter werdende Uferschilf hielt mich davon ab, weiter neben dem Schiff herzugehen. Ich drehte um und ging stadteinwärts. Ich dachte, du brauchst eine Frau, eine Wohnung, einen Roman. Auf der Rückseite eines Briefumschlags notierte ich mir die fünf Gründe, warum ein vorüberfahrendes Schiff schön war. Plötzlich war meine Entscheidung gefallen. Ich beschloß, meine Situation vorläufig nicht zu ändern. Ich würde das Angebot von Herrdegen nicht annehmen. Ich wollte weiterhin Feierabendreporter, mißbrauchter Lehrling und gut bezahlter Vorarbeiter sein. Eines Tages würde ich genauer wissen, was ich zu tun hatte und was nicht. Bis

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