Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman
obgleich bei jedem ihrer Schritte ein knappes Schleifgeräusch am Boden entstand. Hörte die Frau schlecht? Oder war ihr das Geräusch gleichgültig? War ihr vielleicht alles egal? Der Einfall weckte mein Interesse an der Frau. Schon immer wollte ich einen Menschen kennenlernen, dem alles egal war. Die Leute, die ich kannte, sagten immer nur, ihnen sei alles egal. Aber es genügte, sie ein wenig zu beobachten, und schon wurde deutlich, daß ihnen nichts egal war. Noch während ich grübelte, ob es wenigstens einen Menschen gab, dem alles egal war, verlor ich die Frau mit dem Klebeband aus dem Blick. Ich betrachtete die Schluckbewegungen eines Vogels, der aus einer flachen Regenpfütze trank. Die vielen Details um mich herum beglückten mich. Das Verstricktsein in sie versetzte mich in den Zustand des selber romanhaften Lebens. Am Rande eines kleinen Platzes betrat ich ein Terrassen-Café. Ich setzte mich an einen freien Tisch und bestellte ein Kännchen Kaffee und zwei Plunderhörnchen. Zwei Frauen am Nebentisch empörten sich leise über amerikanische Touristen, die Coca-Cola aus Rotweingläsern tranken. Vor meinen Augen trug ein Kind einen großen runden Laib Brot vorüber. Das Kind drückte sich das Brot mit beiden Händen gegen die Brust. Beim Verlassen des Bürgersteigs stürzte das Kind. Im Sturz ließ es das Brot nicht los. Das Kind fiel nach vorne, aber es gelang ihm, eine Berührung des Brotes mit dem Straßenschmutz zu vermeiden. Rasch erhob sich das Kind und untersuchte zuerst das Brot und dann sich selbst. Die Amerikaner und die sie kritisierenden Frauen waren von dem gestürzten Kind gefesselt. Das Brot war nicht beschädigt, nur leicht eingedrückt. Die Arme des Kindes waren nicht verletzt, nur ein wenig zerkratzt. Sekunden später ergab sich eine Blickkette. Das Kind entdeckte seine Betrachter und sah sie kurz nacheinander an. Erst die beiden Frauen, dann mich, dann die Amerikaner. In der Blickkette stießen das heimliche und das öffentliche Leben sanft aneinander. Das Kind sonnte sich in der Huldigung seiner Betrachter und hob das Brot kurz in die Höhe, dann verschwand es. Ich zweifelte nicht, daß ich mich in einem ungeschriebenen Roman bewegte. Ich sah auf mein Frühstück herunter und wartete auf das Aufzucken des ersten Wortes.
Wilhelm Genazino
Wilhelm Genazino, 1943 in Mannheim geboren, lebt in Frankfurt. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Georg-Büchner-Preis und dem Kleist-Preis. Bei Hanser erschienen zuletzt die Romane Mittelmäßiges Heimweh (2007), Das Glück in glücksfernen Zeiten (2009), Wenn wir Tiere wären (2011) und Die Liebe zur Einfalt (Neuausgabe, 2012).
Daten, Fakten, Jahreszahlen
1943 geboren in Mannheim
Nach dem Abitur arbeitete er zunächst als freier Journalist, dann als Redakteur bei verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften, zuletzt bei der Satire-Zeitschrift Pardon.
Studium der Germanistik, Soziologie und Philosophie
seit 1971 ist er als freier Schriftsteller tätig
seit 1990 Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Darmstadt
2004 wurde er in die Bayerische Akademie der Schönen Künste gewählt
2011 wurde der Autor in die Berliner Akademie der Künste aufgenommen
Wilhelm Genazino lebt in Frankfurt.
Auszeichnungen
2010 Rinke-Sprachpreis
2007 Heinrich-von-Kleist-Preis
2004 Hans-Fallada-Preis
2004 Georg-Büchner-Preis
2003 Kunstpreis Berlin
2001 Kranichsteiner Literaturpreis
1998 Großer Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste
1990 Bremer Literaturpreis
1986 Westermanns Literaturpreis
Bibliographie
Im Carl Hanser Verlag sind erschienen
2001 Ein Regenschirm für diesen Tag. Roman
2003 Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman. Roman
2004 Der gedehnte Blick. Essays
2005 Die Liebesblödigkeit. Roman
2006 Die Belebung der toten Winkel. Frankfurter Poetikvorlesungen
2006 Lieber Gott mach mich blind Der Hausschrat. Zwei Theaterstücke
2007 Mittelmäßiges Heimweh. Roman
2007 Die Obdachlosigkeit der Fische. Roman (Neuausgabe)
2009 Das Glück in glücksfernen Zeiten. Roman
2011 Wenn wir Tiere wären. Roman
Weitere Veröffentlichungen (Auswahl)
1977 Abschaffel. Eine Trilogie
1989 Der Fleck, die Jacke, die Zimmer, der Schmerz. Roman
1992 Leise singende Frauen. Roman
1994 Die Obdachlosigkeit der Fische. Roman
1996 Das Licht brennt ein Loch in den Tag. Roman
1998 Achtung Bausstelle. Essays
1998 Die Kassiererinnen. Roman
2000 Auf der Kippe. Ein Album
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