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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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früh für ihn.
    Avram lag reglos da. Seine Augen waren weit geöffnet. Er hatte nur eine Augenbraue, und von der war die Hälfte abgerissen.
    In dieser Zeit seid ihr abwechselnd jede Woche aus dem Sinai nach Hause gefahren, drängte es sie zu sagen, du und Ilan.
    Er drehte den Kopf fragend zu ihr.
    Eine Woche du, eine Woche er. Einer musste im Camp bleiben.
    Er dachte lange nach.
    Und der andere?
    Der andere fuhr nach Hause, nach Jerusalem.
    Und du warst in Jerusalem?
    Ja – bleib bei den Tatsachen, ermahnte sie sich wieder –, erinnerst du dich, wo ich gewohnt habe?
    Da gab es Geranien, sagte Avram nach einigem Nachdenken.
    Richtig! Siehst du, du erinnerst dich! Ich hatte ein kleines Zimmer in Nachlaot.
    Ja?
    Weißt du nicht mehr?
    Das kommt und geht.
    Mit Außentoilette und einer winzigen Küche im Hof. Da haben wir nächtliche Festessen gekocht. Und einmal hast du mir auf dem Gaskocher eine Hühnersuppe gemacht.
    Und meine Mutter, wo war die?
    Deine Mutter?
    Ja.
    Du … erinnerst dich nicht?
    War sie schon …
    Als du im Grundwehrdienst warst, ist sie …
    Stimmt, du warst mit mir auf der Beerdigung, ja. Und Ilan war auch da. Er ging neben mir, auf der anderen Seite. Ja.
    Sie stand von ihrem Platz auf, spürte, dass sie nicht mehr konnte. Sag mal, hast du Hunger? Soll ich dir was holen?
    Ora.
    Sofort setzte sie sich gehorsam wieder hin, wie auf den Befehl eines strengen Lehrers.
    Ich versteh nicht.
    Frag.
    Der Mund.
    Sie tauchte das Läppchen, das neben ihm lag, in Wasser und betupfte seine Lippen.
    Aber im Krieg …
    Ja.
    Warum ich …
    Hier hielt er selbst inne und verstummte. Ora dachte, jetzt fragt er nach den Losen.
    Ich bin zu unserer Stellung am Suezkanal gefahren, sagte er leise, nicht Ilan.
    Er erinnerte sich also, sie wusste es, jetzt erinnerte er sich, wagte aber nicht zu fragen. Sie warf einen hilflosen Blick zum Fenster, suchte ein erstes Anzeichen der Morgenröte, einen Schimmer Licht.
    Und wir beide, du und ich, was hatten wir miteinander?
    Ich hab dir schon gesagt, wir waren gute Freunde. Wir waren … Hör zu, wir haben uns geliebt, sagte sie schließlich ganz schlicht, und die Worte zerrissen ihr das Herz.
    Und mich haben sie im Flugzeug zurückgebracht?
    Was? Sie kam durcheinander. Ja. Im Flugzeug. Mit den anderen.
Es gab noch andere?
    Viele.
    Lange?
    Du warst da ungefähr …
    Nein, ich und du.
    Wir beide …? – Ein Jahr.
    Sie hörte, wie er ungläubig die Worte für sich selbst wiederholte. Sie beherrschte sich, nicht zu fragen, ob er gedacht habe, länger, um nicht hören zu müssen, dass er sagte, weniger. Danach schlief er wieder ein und schnarchte. Sie hatte den Eindruck, er konnte immer nur einen Krümel seines früheren Lebens verdauen.
    Aber wir haben uns wirklich geliebt, sagte sie, obwohl er schlief. Sie sprach laut zu ihm, ernst und streng, und war angespannt, als führte sie mit ihm Verhandlungen, von denen eine Menge abhing. Du und ich, wir waren wirklich … entsetzlich, dachte sie, wie ich darüber schon in der Vergangenheit rede.
    Er bewegte sich, verhedderte sich in seinen Decken, verfluchte den Gips, der ihm auf das Bein drückte. Sie hörte die große Platinschraube in seinem Oberarm gegen das Bettgeländer schlagen.
    Hör mal, Ora.
    Was?
    Ich kann nicht.
    Was nicht?
    Du musst wissen …
    Was?
    Ich kann nicht mehr … Er ächzte, suchte die Worte. Ich liebe nichts mehr. Gar nichts mehr.
    Sie schwieg.
    Ora?
    Ja.
    Das war’s.
    Ja.
    Auch keinen Menschen.
    Ja.
    Ich habe keine Liebe mehr.
    Ja.
    Für nichts.
    Er stöhnte. Ein Restchen seines alten Selbst, der Barmherzige, Ritterliche in ihm, verlangte, sie zu beschützen, sie spürte es, doch fehlte ihm die Kraft dazu: Das wollte ich dir schon vorher sagen.
    Ja.
    Alles ist in mir gestorben.
    Sie saß mit gesenktem Kopf da. Versteinert. Wie war das möglich, Avram ohne Liebe, dachte sie, was war das überhaupt, Avram ohne Liebe. Und dann dachte sie, und wer bin ich, ohne seine Liebe?
    Aber auch in ihr gab es seit dem Krieg, seit er in Gefangenschaft geraten war, keine Liebe mehr, für niemanden. Genau wie nach Ada, als wäre ihr das Blut wieder eingetrocknet. Das war sogar recht bequem. Sie lebte ihren Verhältnissen gemäß. Warum erschien ihr das bei Avram um so viel schlimmer?
    Ora.
    Ja.
    Wie lange waren wir zusammen?
    Ein Jahr, fast ein Jahr.
    Und du und Ilan?
    Fünf Jahre. Seit wir siebzehn waren etwa. Sie lachte freudlos: Du hast uns erst zusammengebracht, weißt du noch? Auch damals waren wir im Krankenhaus, dachte sie,

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