Eine Frau flieht vor einer Nachricht

auch damals war Krieg.
    Daran erinnere ich mich, murmelte er, und dass ihr Freunde wart, daran erinnere ich mich auch. Aber an uns kann ich mich nicht erinnern.
    Sie schluckte die Kränkung mit Mühe.
    Natürlich waren wir zusammen, murmelte er fassungslos, dass ich mich daran nicht erinnert hab!
    Du wirst dich wieder an alles erinnern. Hab Geduld.
    Ich glaub, die haben mir da was kaputtgemacht.
    Das kommt zurück, sagte Ora, und ihr Magen zog sich zusammen, es kann eine Weile dauern, aber du …
    Eine große, kräftige Schwester öffnete die Tür, machte Licht und schaute hinein: Sind wir okay?
    Wir sind okay, sagte Ora und sprang mit einem Schrecken auf, der sich zu einer fiebrigen, mechanischen Freude verselbständigte: Gut, dass Sie kommen, ich wollte Sie schon rufen.
    Avram schnarchte bereits laut, und diesmal fiel es Ora schwer, ihm zu glauben, dass er schlief; sie beherrschte sich und erzählte nicht, dass er wieder redete. Die Schwester wechselte den Infusionsbeutel und den Urinbeutel, strich Salbe auf seine Finger und über seine Augen, wo die Augenbrauen ausgerissen waren. Danach drehte sie ihn auf die Seite und entfernte mit einem Tupfer den Eiter, der aus der Wunde auf seinem Rücken quoll, verband ihn wieder und spritzte ihm Antibiotika, soviel wie für eine Pferd.
    Meine Liebe, Sie müssen jetzt aber auch schlafen, sagte sie beiläufig zu Ora.
    Morgen früh fahr ich nach Hause, antwortete Ora und lächelte angestrengt.
    Sagen Sie, sind Sie verwandt mit ihm, Sie und der Große, Familie?
    So ungefähr. Im Grunde ja. Wir sind seine Familie.
    Ora kam der Gedanke, dass Ilan sich jetzt, seit Avram zurück war, jeden Tag veränderte. Als mache eine neue Kraft ihn irgendwie breiter, so dass er mehr Platz einnahm. Auch sein Gang war jetzt energischer und kräftiger, was sie etwas verwirrte und beunruhigte. Manchmal schaute sie ihn erstaunt an: als würde jemand seine Linien, die bisher nur mit Bleistift gezeichnet waren, mit Tinte nachziehen.
    Nein, lachte die Schwester, ich frage bloß, weil ich die ganze Zeit nur Sie und ihn hier sehe. Hat er sonst niemanden?
    Nein, nur uns beide.
    Aber wie sind Sie mit ihm verwandt? Sie ähneln ihm so gar nicht, beharrte die Schwester, die schon fertig war, noch immer in der Türstand und anscheinend nicht gehen wollte, Sie und der Große sehen einander viel ähnlicher, lachte sie, wie Geschwister sehen Sie aus, wie sind Sie denn miteinander verwandt?
    Das ist eine lange Geschichte, murmelte Ora, ich erzähl sie Ihnen ein andermal.
    Die Tür, flüsterte Avram, als die Schwester gegangen war. Ora stand auf und machte die Tür zu.
    Und du hast zu Ilan gehört, sagte er, prüfte quasi, ob er auf diese Annahme bauen konnte.
    So kann man es sagen. Auch. Aber vielleicht solltest du dich jetzt nicht so anstrengen.
    Und Ilan … den hast du geliebt, nicht wahr?
    Ora nickte. Sie dachte, wie kann man für die Beschreibung so unterschiedlicher Gefühle ein und dasselbe Wort verwenden?
    Wieso … Sag, wieso hast du dann auch …
    Entweder prüft er mich, schoss es ihr durch den Kopf, oder er spielt hier eins von seinen Spielchen.
    Wieso was? fragte sie.
    Wieso haben wir dann auch …
    Sie meinte, endlich eine dünne, etwas hellere Linie hinter dem Fenster zu sehen. Was quälst du ihn mit deinem Gestammel, dachte sie, wovor fürchtest du dich? Erzähl ihm einfach, was war. Gib ihm seine Vergangenheit zurück. Womöglich ist das alles, was er noch hat.
    Sie sagte: Hör mal, Avram, ein Jahr lang, bis zum Krieg, war ich mit dir und mit Ilan zusammen.
    Er stieß überrascht und heiser den Atem aus.
    Erinnere dich, Mann, du musst dich erinnern, murmelte er vor sich hin. Warum ist diese ganze Zeit ausgelöscht? Sie war mit ihm zusammen und auch mit mir? Gleichzeitig? Wieso hat er da mitgemacht, dass auch ich …
    Wieder tauchte er ab, verkroch sich für lange Minuten. Ora dachte, er kann nicht verstehen, was ihm früher völlig selbstverständlich erschien.
    Ich versteh das nicht mehr, Ora, hilf mir.
    Sein Körper zuckte, als trage er in sich einen Kampf aus. Sie wand sich auf ihrem Stuhl, ihre Haut wurde ihr zu eng. Was wollte er vonihr? dachte sie, was sollte dieses merkwürdige Verhör? Wo er sich doch erinnert. Wie kann er dieses Jahr vergessen und alles, was wir zusammen erlebt haben.
    Aber mit uns beiden?
    Ja.
    Zusammen? Zur selben Zeit?
    Sie richtete sich auf und sagte, ja.
    Und das haben wir beide gewusst?
    Ora spürte, sie konnte nicht mehr. Warum auf einmal diese kleinliche Fragerei?