Eine Frau flieht vor einer Nachricht
Es war, als ob auch etwas in ihr sich unheilbar infizierte.
Ich und Ilan – haben wir davon gewusst?
Was? Was sollt ihr gewusst haben? schrie Ora fast.
Dass wir beide, dass wir gleichzeitig mit dir zusammen waren?
Was willst du von mir? Was willst du hören?
In einem erregten, stockenden Flüstern stieg seine Stimme auf; wir haben es also nicht gewusst?
Sie hatte keine Wahl mehr: Verdammt noch mal, du hast es gewusst.
Und er nicht?
Offenbar nicht. Ich weiß nicht.
Du hast es ihm nicht erzählt?
Sie schüttelte den Kopf.
Und er hat nicht gefragt?
Nein.
Auch mich hat er nicht gefragt?
Du hast mir zumindest nichts davon erzählt.
Aber hat er es gewusst?
Ilan ist klug, stieß sie aus. Sie wollte viel mehr sagen. Das Wort »klug« sagte nicht viel. Etwas Breites, Tiefes, Wunderbares und auf seine Art Unglaubliches war ihnen in diesem verschwiegenen Jahr widerfahren. Sie schaute Avram an, sah sein angestrengtes Gesicht, seine kleinliche, beinahe krämerhafte Angst, und dachte, er würde jetzt auch nicht einen Bruchteil mehr davon verstehen.
Aber wir waren Freunde, murmelte er dumpf, Ilan und ich sind doch Freunde, er ist mein bester Freund … Wie kann ich da …
Hätte sie gekonnt, sie hätte ihn ins Koma zurückversetzt, damit er nicht so viel verstand, damit er sich nicht in diesem Augenblick selbst so völlig ungeschützt begegnen musste.
Es war zu spät. Mit einer unendlichen Verzögerung traten seine Augen aus den Höhlen. Ora spürte, wie sich im Zeitlupentempo eine Explosion des Verstehens in ihm entlud.
Auf der anderen Seite der Straße, die sie jetzt überquerten, erstreckt sich eine fette Wiese. Ein umgefallener Stacheldrahtzaun, viel blühender Klee. Hey, schau mal, sagt Avram und zeigt mit fröhlicher Einfalt: Auf einem runden Felsen prangt in der Sonne blau-weiß-orangefarben die Wegmarkierung. Ein Zwinkern des Weges. Wir haben ihn gefunden, verkündet er, stellt den Fuß auf den markierten Fels und deutet mit ausgestrecktem Arm auf den ansteigenden Weg. Verdammt hoch, sagt er, als seine Augen der Hand bis zum Gipfel folgen, und zieht etwas furchtsam den Fuß wieder zurück.
Sie fragt nach: Sind Berge auch ein Problem für dich?
Auch Straßen sind eigentlich kein Problem, murrt er, ich weiß nicht, was mit mir los ist.
Ich hab echt Schiss gehabt, die hätten uns da fast überfahren.
Dann verdanke ich dir mein Leben, brummt er.
Sagen wir, noch ein paar solche Szenen, dann sind wir quitt? Sie wagt es, das auszusprechen, und sieht den Schatten eines bitteren Lächelns über sein Gesicht ziehen.
Und wo ist deine Hündin?, erinnert er sich.
Meine? Plötzlich gehört sie mir?
Unsere, okay, unsere.
Sie kehren zurück an den Straßenrand, pfeifen beide nach ihr, zusammen und jeder allein, rufen aus voller Brust, hey und ho, gegen den Verkehrslärm, Hündchen, komm schon, und sie hören sich selbst, wie ihre Stimmen sich vermischen. Wenn Ora nur den Mut hätte, sie würde einmal Ofer schreien, Ofer, komm nach Hause.
Doch die Hündin ist nicht zu sehen. Vielleicht ist es auch besser so, denkt Ora, dass ich mich nicht zu sehr an sie binde, ich hab nicht die Kraft für noch eine Trennung, aber trotzdem ist es schade, wir wären gute Freundinnen geworden.
Der Aufstieg ist steil und beschwerlich. Olivenbäume, Mastixsträucher, dazwischen stacheliger Weißdorn, ihre Wadenmuskeln dehnen sich so sehr, dass es weh tut, und die Steigung ermüdet die Lungen. Was das wohl für ein Berg ist, sagt Avram schwer atmend, ich wüsste gern, wie der heißt, wo sind wir überhaupt. Ora bleibt stehen und atmet tief durch. Was interessierst du dich plötzlich dafür, wo wir sind? Er schaut sie verlegen an. Es ist bloß sonderbar, zu gehen und nicht zu wissen, wo man ist. Und sie, die Karte ist in deinem Rucksack. Und er, vielleicht schaun wir mal drauf?
Sie setzen sich, lutschen Zitronenbonbons. Avram zögert einen Moment, öffnet dann die rechte Tasche des Rucksacks. Das erste Mal, seit sie aufgebrochen sind, steckt er die Hand hinein. Er holt ein Leatherman-Taschenmesser heraus, eine Schachtel Streichhölzer, Kerzen, eine Rolle Bindfaden, eine Creme gegen Mücken. Eine Taschenlampe. Noch eine. Ein Nähset, Deodorant, Aftershave. Ein kleines Fernglas. Avram breitet seine Beute auf dem Boden aus und betrachtet sie. Für einen Moment scheint es ihr, als versuche er, aus diesen Gegenständen irgendeine Gestalt von Ofer zu erschaffen, Mutmaßungen über Ofer. Ora lacht: Er ist immer für jeden Notfall
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